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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Autoren: Dryas Verlag
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einen Wohnsitz entstehen zu lassen, wie man ­seinesgleichen in der gesamten Grafschaft Essex nicht ­finden konnte.

    Sir Michael Audley, der Hausherr, war ein imposanter Mann in den besten Jahren, hochgewachsen und ­kräftig, mit einer tiefen, sonoren Stimme, eindrucksvollen ­schwarzen Augen und einem grauen Bart, der ihm – ganz gegen seinen Willen – ein höchst ehrwürdiges Aussehen verlieh. Dabei war er so aktiv wie ein junger Mann und einer der verwegensten Reiter der Grafschaft. Siebzehn Jahre lang war er Witwer gewesen. Er hatte nur ein Kind, eine Tochter, Alicia Audley, die nun achtzehn Jahre alt war. Alicia war ganz und gar nicht erfreut gewesen, als ihr Vater eines Tages eine Stiefmutter ins Haus gebracht hatte, denn sie hatte seit ihrer frühesten Kindheit die ­unumschränkte Herrschaft auf Audley Court gehabt. Doch nun war Miss Alicias Zeit vorüber. Wenn sie heute etwas von der Haushälterin wollte, pflegte diese ihr zu antworten, sie müsse zunächst mit Mylady sprechen. So kam es denn, dass die Tochter des Barons die meiste Zeit außer Haus verbrachte. Sie ritt im Galopp über die Weiden oder zeichnete, da sie eine talentierte Künstlerin war, was immer ihr über den Weg lief. Mit trotziger Entschlossenheit widersetzte sie sich jedem Versuch einer Annäherung durch die neue Frau des Barons, die seit Kurzem im Hause lebte und nun ihre Stiefmutter war. So sehr diese Dame sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, die Vorurteile und Abneigung von Miss Alicia zu überwinden. Das verwöhnte Mädchen war davon überzeugt, man habe ihr grausames Unrecht angetan.

    Um die Wahrheit zu sagen, hatte die neue Lady ­Audley durch ihre Eheschließung mit Sir Michael eine jener ­vorteilhaften Partien gemacht, die geeignet sind, sich den Neid und den Hass anderer Frauen zuzuziehen. Sie war zuvor in das Dorf nahe Audley Court gekommen, um als ­Gouvernante der Familie des hiesigen Arztes zu arbeiten. Niemand wusste Näheres über sie, außer dass sie auf eine Anzeige des Arztes, Mr Dawson, in der Times ­geantwortet hatte. Sie kam aus London, und die einzige Referenz, die sie vorweisen konnte, war jene von einer Schule in ­Brompton, an der sie einst Lehrerin gewesen war. Doch diese ­Empfehlung war wohl so überzeugend, dass keine weiteren Empfehlungen verlangt wurden. Und so wurde Miss Lucy Graham im Hause des Arztes als Erzieherin ­seiner Töchter aufgenommen. Ihre Fertigkeiten waren ­derart außergewöhnlich und zahlreich, dass ihre eilige Zusage Mr Dawson seltsam erschien, zumal er ihr nicht viel ­zahlen konnte. Miss Graham erweckte jedoch den Eindruck, als sei sie völlig zufrieden mit ihrer Stellung. Sie lehrte die Mädchen, Sonaten von Beethoven zu ­spielen und ­Zeichnungen nach der Natur im Stile Creswicks anzufertigen. Jeden Sonntag pflegte sie dreimal durch das ver­schlafene Dörfchen zur kleinen Kirche zu wandern. Sie schien so selbstgenügsam, als habe sie keinen größeren Wunsch auf dieser Welt, als genau auf diese Weise für den Rest ihres Daseins weiterzuleben.
    Miss Lucy Graham war mit jener magischen Ausstrahlung gesegnet, mit der eine Frau ihr Gegenüber nur durch ein Wort oder ein Lächeln zu verzaubern vermag. Jedermann liebte, bewunderte und lobte sie. Ihr Dienstherr, seine Besucher, ihre Schülerinnen, die Dienst­boten, sie alle, ob von hohem oder niederem Stande, waren einer ­Meinung: Lucy Graham war das liebenswürdigste ­Mädchen, das sie je gesehen hatten.
    Vielleicht war es diese ein­hellige Meinung, die bis in die ruhigen Räume von Audley Court drang. Oder war es möglicherweise der Anblick während des sonntäglichen Gottesdienstes? Was immer es sein mochte: Sir Michael Audley verspürte ­plötzlich das dringende Verlangen, Mr Dawsons Gouvernante näher kennenzulernen.
    Er brauchte nur eine leise Andeutung gegenüber dem ehrenwerten Doktor zu machen, und schon wurde eine kleine Gesellschaft arrangiert, zu welcher der Vikar und seine Frau sowie der Baron und seine Tochter eingeladen waren.
    Dieser eine beschauliche Abend besiegelte Sir Michaels Schicksal. Er konnte sich ihm ebenso wenig widersetzen, wie er dem zarten Zauber dieser sanften Augen wider­stehen konnte. Ihre anmutige Schönheit, der gesenkte Kopf mit einer wogenden Fülle flachsgoldener Locken, der ­melodische Klang ihrer weichen Stimme und die voll­kommene Harmonie, die all diesen Liebreiz prägte, erschien ihm an dieser Frau unendlich bezaubernd. Schicksal! Wahrhaftig, sie war sein Schicksal!
    Niemals
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