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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Autoren: Dryas Verlag
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sind die Letzte, die so reden sollte. Sie sind ein so heiteres, glückliches Wesen! Ich weiß wirklich nicht, was wir machen werden, wenn Sir Michael Sie uns entführt.“
    Nach dieser Unterhaltung zeigte Lucy nie wieder irgendeine Gefühlsregung, wenn von der Bewunderung des Barons für sie die Rede war. In der Arztfamilie war es schließlich eine stillschweigend ausgemachte Sache, dass die Erzieherin Sir Michaels Antrag annehmen würde, wann immer er offiziell um ihre Hand anhielt. Die ­schlichten Dawsons hätten es für mehr als aberwitzig gehalten, würde ein mittelloses junges Mädchen ein ­derartiges Angebot zurückweisen.

    An einem nebligen Abend im Juni, als Sir Michael Lucy Graham im kleinen Salon des Doktors gegenübersaß und die Familie nicht im Raum war, geschah es dann. Sir Michael sprach über das Anliegen, das ihm so am ­Herzen lag. In wenigen, aber würdevollen Worten bot er der ­Gouvernante seine Hand zur Ehe. Es lag etwas Rührendes in der Art und Weise, in der er sich an sie wandte. Er war sich nicht sicher, ob die Wahl eines so jungen, schönen Mädchens gerade auf ihn fallen würde. Und so bat er sie, sie möge ihn eher abweisen, selbst wenn es ihm das Herz brechen würde, als seinen Antrag anzunehmen, ohne ihn zu lieben.
    „Ich denke, es gibt kaum eine größere Sünde, Lucy“, sagte er ernsthaft, „als jene, die eine Frau dann begeht, wenn sie einen Mann heiratet, den sie nicht liebt. – Sie ­stehen ­meinem Herzen so nahe, dass ich es nicht zulassen könnte, würden Sie eine solche Sünde begehen. Dennoch, der bloße Gedanke an eine Enttäuschung wäre äußerst ­bitter für mich. – Aber sagten Sie Ja, nur um meines
Glückes ­willen, so würde doch nichts als Elend auf ­unserer Ehe ­liegen, die aus anderen Gründen als allein aus ­Aufrichtigkeit und Liebe geschlossen würde.“
    Lucy Graham sah Sir Michael nicht an, sondern blickte in die neblige Dämmerung der fernen Landschaft jenseits des kleinen Gartens. Der Baron versuchte, ihr ins Gesicht zu schauen, doch sie hatte es abgewandt. Und so konnte er den Ausdruck ihrer Augen nicht deuten. Hätte er in ihre Augen sehen können, so hätte er einen Blick bemerkt, der die weite Dunkelheit zu durchbohren schien, fort, in eine andere Welt.
    „Lucy, haben Sie mich gehört?“
    „Ja, Sir Michael.“
    „Und wie lautet Ihre Antwort?“
    Sie starrte vor sich hin. Minutenlang war sie ganz still. Dann wandte sie sich plötzlich mit einer Leidenschaftlichkeit zu ihm, die ihr Antlitz in einer neuen und wunder­vollen Schönheit erglühen ließ. Sie fiel vor ihm auf die Knie.
    „Nein, Lucy, nein!“, rief er.
    „O doch!“, antwortete sie, und die seltsame Leidenschaft, die sie erschütterte, ließ ihre Stimme schrill und durchdringend klingen. „Wie gut Sie sind, wie edel und großmütig! Sie zu lieben! Wahrhaftig, es gibt Frauen, die hundertmal schöner und tugendhafter sind als ich, die Sie gewiss von ganzem Herzen lieben würden. Aber Sie verlangen zu viel von mir! – Denken Sie daran, wie mein Leben bisher verlaufen ist. Seit meiner frühesten Kindheit habe ich nichts als Armut gekannt. Mein Vater war ein ­kluger, gebildeter, hochherziger und stattlicher Herr, aber er war arm. Armut, Schicksalsprüfüngen, Sorgen, ­Erniedrigungen, Entbehrungen! Sie kennen das nicht! Sie ahnen ja nicht, was Menschen wie ich zu ertragen haben. ­Verlangen Sie deshalb nicht zu viel von mir. Ich kann meine Augen nicht vor den Vorteilen einer solchen Verbindung verschließen. Ich kann es nicht!“ Neben ihrer ­Erregung und leidenschaftlichen Heftigkeit schwang in ihrem Verhalten noch etwas Unbestimmtes mit, das den Baron mit einem Gefühl vager Unruhe erfüllte. Sie kauerte noch immer vor ihm auf dem Boden. Ihr dünnes weißes Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper und ihr helles Haar strömte über die Schultern. Lucys Augen glühten in der Dunkelheit und ihre Hände waren in das schwarze Band an ihrem Hals verkrallt, so als ob es sie erdrosseln würde.
    „Verlangen Sie nicht zu viel von mir“, wiederholte sie. „Seit meiner Kindheit bin ich auf meinen Vorteil bedacht gewesen.“
    „Lucy, sagen Sie es klar und deutlich: Mögen Sie mich nicht?“
    „Sie? Nicht mögen? Natürlich mag ich Sie!“
    „Ist da ein anderer, den Sie lieben?“
    Bei dieser Frage lachte sie laut auf. „Ich liebe niemanden auf dieser Welt“, entgegnete sie.
    Ihre Erwiderung machte ihn froh, und doch ... diese Antwort und das eigenartige Lachen, beides berührte
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