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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Autoren: Dryas Verlag
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zuvor hatte er wirklich geliebt. Was war ­dagegen seine Ehe mit Alicias Mutter gewesen? Nichts als ein langweiliger, gefühlloser Handel, der nur zustande ­gekommen war, um irgendwelche Ländereien in der Familie zu halten. Aber dies war Liebe! Das Fieber, das Sehnen und diese rastlose, elende Unschlüssigkeit. Hinzu kamen die grau­samen Befürchtungen, dass sein Alter vielleicht ein unüberwindliches Hindernis für sein Glück sein könnte. Plötzlich hasste er seinen weißen Bart und verspürte den heftigen Wunsch, wieder jung zu sein. Schlaflose Nächte und trübsinnige Tage erhellten sich auf wundersame Weise, sobald er einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht werfen konnte, wenn er am Haus des Doktors vorbeiritt. All diese Anzeichen bewiesen nur zu deutlich, dass Sir Michael Audley im würdigen Alter von fünfundfünfzig Jahren an jenem schrecklichen Fieber erkrankt war, das man Liebe nennt.
    Ich glaube nicht, dass der Baron während der ­ganzen Zeit seines Werbens auch nur einmal überlegt hatte, ob sein Reichtum und seine Stellung als Beweggründe zu seinen Gunsten ins Gewicht fallen könnten. Wenn er sich überhaupt dieser Dinge besann, dann wies er jeden Gedanken an Derartiges sogleich von sich. Es schmerzte ihn, auch nur einen Moment lang in Erwägung zu ­ziehen, dass jemand, der so lieblich und unschuldig war, sich als Gegenwert für ein prächtiges Haus oder einen ­ehrwürdigen alten Titel betrachten könnte. Nein! Seine ­Hoffnung beruhte vielmehr auf der Überlegung, dass ihr Leben ­bisher höchstwahrscheinlich ein Dasein der Mühe und Arbeit und der Abhängigkeit gewesen sein musste. Und da sie noch sehr jung zu sein schien, kaum älter als ­zwanzig, konnte es sein, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt noch ­niemals eine tiefere Zuneigung zu jemandem gefasst haben mochte. Vielleicht gelänge es ihm, ihr junges Herz für sich zu gewinnen. Vielleicht verspräche sie ihm allein aufgrund ihrer reinen Liebe ihre Hand. Zweifellos war es eine sehr romantische Träumerei. Trotzdem schien sie Aussicht auf Verwirklichung zu haben, denn es hatte den Anschein, als missbillige Lucy Graham die Aufmerksamkeiten des Barons keineswegs. Nichts in ihrem Verhalten zeugte von jener listigen Schlauheit, die eine Frau mitunter einsetzte, um einen reichen Mann zu erobern.
    Schließlich sprach Mrs Dawson die Gouvernante ihrer Töchter auf den Baron an. Die Frau des Arztes saß im Schulzimmer über ihrer Arbeit, während Lucy die ­Aquarellskizzen ihrer Schülerinnen mit einigen Pinselstrichen vollendete.
    „Wissen Sie, meine liebe Miss Graham“, sagte Mrs ­Dawson, „ich denke, Sie können sich außerordentlich glücklich schätzen.“
    Die Erzieherin schaute verwundert zu ihrer Dienst­herrin hinüber. „Was meinen Sie damit, Mrs Dawson?“, fragte sie. Vorsichtig hielt sie einen Pinsel in ihrer Hand, um mit etwas Purpur den Horizont auf der Zeichnung ihrer Schülerin aufzuhellen.
    „Nun, ich glaube, meine Liebe, dass es nur an Ihnen liegt, ob Sie Lady Audley und damit Herrin von Audley Court werden.“
    Lucy Graham ließ den Pinsel auf das Bild fallen. Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Doch dann wurde sie ganz blass – blasser, als Mrs Dawson sie jemals gesehen hatte.
    „Meine Liebe, regen Sie sich nicht auf“, beschwichtigte sie die Arztfrau. „Sie wissen doch, dass niemand von Ihnen verlangt, Sir Michael gegen Ihren Willen zu ­heiraten. Natürlich wäre es eine glänzende Partie. Er hat ein bemerkenswertes Einkommen und ist einer der großzügigsten Männer, die ich kenne. Ihre Stellung wäre sehr bedeutend, und Sie wären in der Lage, viel Gutes zu tun. Aber wie ich schon sagte, Sie müssen sich ganz und gar von Ihren eigenen Gefühlen leiten lassen.“
    „Bitte sprechen Sie nicht weiter, Mrs Dawson“, ­murmelte Lucy Graham verwirrt. „Ich hatte keine Ahnung. Es ist das Letzte, was mir in den Sinn gekommen wäre.“ Sie stützte ihre Ellenbogen auf das Zeichenbrett und schlug die Hände vor ihr Gesicht. Minutenlang schien sie in tiefe Gedanken versunken. Um ihren Hals trug sie ein schmales ­schwarzes Band, an dem sie nervös fingerte. „Ich glaube, manche Menschen sind dazu geboren, unglücklich zu sein, Mrs Dawson“, brachte sie endlich hervor. „Dennoch wäre es ein zu großer Glücksfall für mich, Lady Audley zu werden.“ Sie sagte das mit so viel Bitterkeit in der Stimme, dass die Arztfrau sie erstaunt anblickte.
    „Sie! Unglücklich, meine Liebe?“, rief Mrs Dawson aus. „Ich finde, Sie
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