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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Autoren: Dryas Verlag
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schwindende Röte am westlichen Horizont.
    „Stört Sie meine Zigarre, Miss Morley?“, fragte er, ­während er die Zigarre aus dem Mund nahm.
    „Ganz und gar nicht! Rauchen Sie ruhig weiter. Ich bin nur gekommen, um den Sonnenuntergang zu bewundern. Was für ein wundervoller Abend!“
    „Ja, ja, mag sein“, antwortete er, „aber so lange noch! Noch zehn endlose Tage und zehn weitere lange Nächte, bis wir endlich Land betreten.“
    Miss Morley seufzte. „Wünschen Sie sich, es dauerte nicht so lange?“
    „Allerdings!“, rief George. „Das wünsche ich mir wahrhaftig! Sie nicht?“
    „Eigentlich nicht.“
    „Gibt es denn niemanden in England, den Sie gern haben? Wartet niemand auf Ihre Ankunft?“, wollte er ­wissen.
    „Ich hoffe schon“, entgegnete sie leise.
    Eine Zeit lang schwiegen sie. Während er voll zorniger Ungeduld seine Zigarre rauchte, so als könne er durch seine Rastlosigkeit die Fahrt des Schiffes beschleunigen, verfolgte sie das Versinken des Lichtes am Horizont.
    „Sehen Sie nur“, entfuhr es George auf einmal, wobei er in eine andere Richtung deutete. „Dort! Der Mond!“
    Sie blickte zu dem fahlen Mond auf, und ihr Gesicht wirkte fast ebenso fahl und bleich wie dieser.
    „Es ist das erste Mal, dass wir ihn sehen. Wir müssen uns etwas wünschen“, bemerkte George. „Ich weiß, was ich mir wünsche.“
    „Und was ist das?“
    „Dass wir schnell zu Hause sind!“
    „Und mein Wunsch ist es, dass uns keine Enttäuschung erwarten mag, wenn wir dort ankommen“, antwortete die Gouvernante voll Traurigkeit.
    „Enttäuschung?“ Er fuhr zusammen, so als habe man ihn geschlagen. „Was meinen Sie damit?“
    „Ich merke, dass nun, da unsere lange Reise ihrem Ende zugeht, die Hoffnung in meinem Herzen nachlässt und mich die elende Befürchtung heimsucht, es werde letztlich doch nicht alles gut enden. Der Mann, zu dem ich fahre, könnte seine Gefühle mir gegenüber geändert haben. Er könnte auch bereits tot sein. – Ich erwäge alle diese ­Möglichkeiten, Mr Talboys, und erlebe sie in meinem Geiste. Zwanzigmal am Tag erleide ich die Seelenqualen, die Sie begleiten, zwanzigmal am Tag.“
    Mit der Zigarre in der Hand hatte George Talboys ihr regungslos zugehört. Plötzlich kam Bewegung in den ­jungen Mann. Voll Bestürzung wandte er sich seiner Begleiterin zu. „Was sagen Sie da?!“, rief er. „Wollen Sie mir Angst machen? Warum kommen Sie zu mir und erzählen mir diese Dinge? Ich fahre nach Hause zu der Frau, die ich liebe! Zu dem Mädchen, dessen Herz so aufrichtig ist. Und so, wie ich weiß, dass jeden Morgen die Sonne am ­Himmel aufgehen wird, so sicher bin ich mir, dass sie am Pier auf mich warten wird. Warum kommen Sie zu mir und ­versuchen, mich auf so traurige Gedanken zu ­bringen? – Ich kehre doch zu meiner geliebten Frau zurück.“
    „Zu Ihrer Frau“, erwiderte sie. „Das ist etwas ganz ­anderes. Ich reise heim nach England, zu dem Mann, mit dem ich mich vor fünfzehn Jahren verlobte und den ich viele Jahre nicht mehr gesehen habe.“
    „Bis zu diesem Augenblick, so versichere ich Ihnen“, entgegnete George aufgebracht, „hatte ich nie irgend­welche bösen Vorahnungen.“ Er warf die Zigarre ins Meer.
    Miss Morley betrachtete ihn mit einem ­wehmütigen Lächeln. Sein ungestümer Eifer, die Lebhaftigkeit und ­Ungeduld seines Wesens erschienen ihr so seltsam und doch auch bewundernswert.
    „Meine hübsche Frau! Meine sanfte Frau! Wissen Sie, Miss Morley“, fuhr er wieder ganz in seiner gewohnt ­hoffnungsvollen Art fort, „ich ließ sie mit dem Baby in den Armen schlafend zurück. Nur ein paar Zeilen erklärten ihr, warum ich sie verließ.“
    „Sie verlassen?“, rief die Erzieherin aus.
    „Ja! Ich war Kornett in einem Kavallerieregiment, als ich meinen kleinen Liebling zum ersten Mal traf. Wir waren in einer langweiligen Hafenstadt stationiert. Sie lebte dort mit ihrem alten Vater, einem heruntergekommenen ­Marineoffizier. Ein Schlitzohr, arm wie eine Kirchenmaus, aber stets mit einem Blick auf den eigenen Vorteil. Ein scheinheiliger alter Trunkenbold, jederzeit bereit, seine Tochter dem höchsten Bieter zu verkaufen. Zu meinem Glück galt ich zu jener Zeit als der höchste Bieter, denn mein Vater ist ein wohlhabender Mann. Und da es auf beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick war, beschlossen wir zu heiraten. Sobald aber mein Vater hörte, dass ich ein Mädchen ohne einen Pfennig Geld zur Frau ­genommen hatte, schrieb er mir einen wütenden
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