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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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war das Problem. Es taute jetzt schon den zweiten Tag, und in den Rinnsteinen gurgelten kleine Bäche. Ich war seit dem frühen Morgen unterwegs, hatte die ganze St. Denis Street abgeklappert, von der Dorchester Street bis zum Mount Royal Boulevard.
    Ich blieb vor der Tür eines hohen, grauen Mietshauses stehen und schnürte meinen Stiefel auf, um den Schaden zu begutachten. Das hier war jetzt das fünfzehnte Wohnheim, bei dem ich es probierte. Danach war ein Tee fällig, versprach ich mir, als ich die Concierge-Klingel drückte. Ich war völlig ausgedörrt. Wenn es wieder nichts brachte, musste ich Schluss machen. Meine Ferse pochte jetzt.
    Ein alter Mann mit Hosenträgern öffnete, und ich sagte wieder den Namen, den ich schon den ganzen Vormittag den Concierges in der St. Denis Street genannt hatte. Es war ein schwieriger Name für Französischsprachige, wegen des aspirierten »H« am Anfang. Ich rechnete wieder mit einer negativen Antwort, aber der alte Mann rief aus: » Erts-ligue! Mai bien sûr. C’est un Anglais, n’est-ce pas? « Er musterte mich von Kopf bis Fuß und sagte, eine Frau könne er leider nicht nach oben lassen.
    Ich trug an diesem Tag einen alten Mantel und Stiefel, die kein weiteres Jahr mehr überstehen würden. In einem Monat wurde ich fünfzig. Der Ruf des Hauses war durch meine Anwesenheit eindeutig nicht gefährdet. »Ich muss ihn sehen«, sagte ich in meinem besten Französisch. »Es ist dringend.« Er gab nach und nannte mir die Zimmernummer.
    Jakob Hertzlich aufzuspüren war nicht leicht gewesen. Zuletzt hatte man ihn an der McGill nicht lange nach meiner Abreise nach England gesehen. Er hatte bei Dr. Mastro vorbeigeschaut, der berichtete, er habe furchtbar ausgesehen, dünn wie eine Bohnenstange und ungepflegter denn je. Er habe etwas von einem gemieteten Zimmer in der St. Denis Street gesagt und davon gesprochen, dass er für immer nach England gehen wolle.
    Das hatte mir Dr. Mastro am Vortag erzählt. Und er hatte auch Neues in Sachen Sir William Howlett zu berichten gehabt. Offenbar hatte Howlett in seinem Testament verfügt, dass sein Leichnam autopsiert und sein Gehirn einer höheren Bildungseinrichtung gestiftet werden solle. In Montreal hatte man gehofft, diese höhere Bildungseinrichtung könnte die McGill sein. Es war ein schwerer Schlag gewesen, als man erfuhr, dass die Ehre der University of Pennsylvania zuteil werden würde. »Überlegen Sie doch mal, Dr. White!«, hatte Mastro gesagt. »Sie wären die zuständige Kuratorin gewesen.«
    Zu Mastros Erstaunen hatte ich keine Enttäuschung gezeigt. Ich hätte Sir William zu Lebzeiten so viele Jahre gedient, erklärte ich, dass ich gern bereit sei, diese Aufgabe nun anderen zu überlassen.
    Die Treppe des Wohnheims war steil, und ich musste auf dem Weg Pausen einlegen. Als ich schließlich ganz oben ankam, atmete ich schwer. Hier gab es nur zwei Zimmer. Eins war leer, die Tür stand offen. Ich sah eine nackte Matratze und eine niedrige, schräge Decke. Eine Bodenkammer, als Zimmer getarnt. Durchs Fenster sah man den Dachvorsprung. Ich hörte Wasser aus einem Regenspeier tropfen.
    Die zweite Tür war zu. Dahinter rauchte offenbar jemand. Ich starrte auf diese Tür: Sie war weiß, mit einem Riss über die ganze Länge, und am Rand blätterte die Farbe ab. Der Tabakgeruch war penetrant. Was würde ich tun, wenn er es war? Was würde ich sagen? Bettfedern quietschten. Der Mensch dort drinnen wusste, dass hier jemand stand. Ich klopfte.
    Es kam eine ausweichende Antwort auf Französisch – eine Stimme, die für Jakob Hertzlich zu leise klang. Die Bettfedern quietschten wieder, etwas rumste, dann folgten diffuse Geräusche. » Une minute! «, rief die Stimme. Eine Schublade wurde aufgezogen und wieder zugeschoben, Schritte näherten sich der Tür.
    Er war sichtlich überrascht, dass ich es war. Er trug lediglich Arbeitshosen und ein Unterhemd, aus dem unter den Achseln und auf der Brust dunkle Haare hervorquollen. Er war barfuß. Ich schaute fort. Das Fenster stand weit offen. Das war vermutlich das Rumsen gewesen – Holz gegen Mauerwerk, weil er hastig zu lüften versucht hatte. Sonne fiel herein und nahm seinem verblüfften Gesicht etwas von der Härte.
    Das Zimmer wirkte wie eine Mönchszelle. Jakobs Klappbett war ungemacht, und auf den Laken lag ein aufgeschlagener Roman. Neben dem Bett stand eine billige Kommode. In einer Ecke quollen Kleidungsstücke aus einem abgestoßenen alten Koffer.
    »Ich dachte, Sie wären der
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