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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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ermöglichen und auch Miss Skerrys Alter sichern. Ich war so gut wie entschlossen, wollte aber nicht zu impulsiv sein und fragte sie daher, was sie täte, wenn sie in meinen Schuhen stecken würde.
    »Was für eine Frage!«, rief sie lachend. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie sich deine Schuhe anfühlen, und würde mir nie anmaßen, auch nur probeweise hineinzuschlüpfen. Aber eins kann ich dir sagen: Wenn Fortuna anklopft, tut man im Allgemeinen gut daran, die Tür zu öffnen.«
    Nachdem sie mir ein Mittagessen aus Suppe und frischem Brot vorgesetzt hatte, schlug sie einen Spaziergang vor. Doch zuerst schnitt sie ein halbes Dutzend Narzissen, wickelte sie in Zeitungspapier und legte sie in ihre Büchertasche. Ich war so klug, nicht zu fragen, was sie vorhatte.
    Der North River ist dort, wo er an der Priory vorbeifließt, nicht besonders breit, aber die Strömung reicht aus, dass er nicht ganz zufriert. An diesem Tag waren im Weiß große Flecken von Blau sichtbar. Die Sonne hatte so warm herabge schienen, dass aus der Eisdecke am Ufer große Schollen he rausgebrochen waren. Hier am Fluss erzählte ich George von meinem Treffen mit Sir William und vom Wiedersehen mit meinem Vater in Calais. Sie war der erste Mensch, mit dem ich darüber sprach, und die Geschichte kam nur stockend aus mir heraus. Ich war froh, dass wir im Freien waren. Es schien auch richtig, es ihr im Winter in St. Andrews East zu erzählen – die Jahreszeit und den Ort verband ich mit dem letzten Zusammensein mit meinem Vater. Jetzt war es George, die mich in die Arme nahm, etwas unbeholfen, weil sie einen dicken Mantel und Handschuhe trug. Sie gab mir keine Ratschläge und versuchte auch nicht, mich aufzuheitern. Sie ließ mich erzählen und hielt mich fest.
    Danach gingen wir die Hauptstraße entlang zur Christ Church, die mein Urgroßvater vor fast hundert Jahren gegründet hatte. Die Priory war noch nicht verkauft, doch ich betrachtete sie schon voller Wehmut als einen Ort, den ich hinter mir gelassen hatte. George führte mich die Straße neben der Kirche entlang und blieb plötzlich stehen. Jemand hatte durch den Schneewall einen schmalen Zugang zum Friedhof gegraben, er war erstaunlich ausgetreten.
    »Komm«, sagte sie, raffte ihre Röcke und stieg über den Straßengraben. Ich musste an das Jahr denken, in dem ich dreizehn wurde und Miss Skerry in mein Leben trat. Genauso hatte sie ihre Röcke gerafft, wenn wir im Wald auf der Suche nach Mikroskopierobjekten waren. Wieder traten mir Tränen in die Augen. Ich wurde auf meine alten Tage sentimental, und das Seltsame war, dass es mich gar nicht störte.
    Wir kletterten über den Holzzaun, was leicht ging, da er halb im Schnee versunken war, und betraten den Kirchhof. Inzwischen hatte ich erraten, was meine alte Freundin vorhatte, und war daher nicht erstaunt, als sie sich in den Schnee kniete und ihre Büchertasche öffnete. Es lagen noch andere Grabgaben dort – ein Stechpalmenzweig und die leuchtenden Blütenblätter einer gefrorenen Amaryllis. Darauf legte sie die duftenden Narzissen.
    »Ich habe Laure geliebt«, sagte sie schlicht. »Und deine Großmutter auch.«
    Der Friedhof war hübsch. Ich war immer nur zu den Beerdigungen hergekommen, hatte nie einfach hier gesessen, aber jetzt erhielt ich die Gelegenheit, seine Schönheit zu würdigen. Er lag unter Kiefern, in deren Geäst sich Meisen versammelt hatten. Der Schnee war tief und sauber. Es gab keine Fußstapfen außer unseren eigenen. Wir standen ein paar Minuten schweigend da und dachten an meine Schwester, die unter ihrem Kreuz lag. Ihr Name – Laure Frances Stewart White – war in den Stein gemeißelt.
    »Wenn ich sterbe«, sagte ich, »werde ich auch hier begraben.« Vor meinem inneren Auge sah ich den Stein. Zum ersten Mal in meinem Leben akzeptierte ich, dass es der Name meiner Großmutter sein würde, der tapferen Frau, die mich geliebt und großgezogen hatte.
    Auf dem Heimweg erzählte ich Miss Skerry von meinem Traum.
    »Du hast es geschafft!«, rief George so laut, dass ich zusammenfuhr. »Du hast ihn tatsächlich an deinem Namenstag herbeibeschworen! Das ist unglaublich, Agnes White.«
    Ich hatte erwartet, sie würde sagen, das sei doch alles Unsinn, aber nein – sie fing an zu lachen, so hemmungslos und fröhlich, dass ich bald mitlachte.

32
    1. Februar 1919
    A n meiner rechten Ferse bildete sich eine Blase. Ich fühlte bei jedem Schritt, wie mein Schuh darüber scheuerte. Meine Strümpfe waren nass, das
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