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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Versuch an der Stuhllehne fest. Das Schiff schwankte, aber nicht genug, um sie aus dem Lot zu bringen, und sie deklamierte:
    Sankt Agnes’ Abend – oh, wie fror die Welt!
    Kalt saß der Kauz trotz dickem Federkleide,
    Der Hase hinkte matt durchs eis’ge Feld …

    Sie hielt inne. »Mehr weiß ich nicht mehr.« Sie wandte sich an ihre Schwester. »Hilf mir, Beth.«
    Doch auch Beth war überfragt. »Irgendwas mit Schafen«, sagte sie vage. »Und einem Rosenkranz.«
    Ich legte die Hände auf den Tisch und schloss die Augen. Sofort sah ich die Illustration aus Englische Gedichte vor mir: den mageren Beter auf den Stufen, sein wallendes weißes Haar, seinen Atem, der emporstieg wie Weihrauch. Ich machte da weiter, wo Nora aufgehört hatte, rezitierte bis zur sechsten Strophe, wo es um die Rituale geht, die Mädchen einhalten müssen, um von ihrem Liebsten zu träumen.
    Als wir nach dem Dinner aufstanden, versuchte sich der Corporal an einer förmlichen Verbeugung. »Mögen den Damen heute Nacht süße Träume beschert sein.«
    Beth lachte. Es war klar, dass sie dem Corporal gefiel, aber mich machte die Art, wie er sie ansah, ganz melancholisch. Meine eigene Einsamkeit und die Nachricht von Howletts Tod hatten die Wärme des Weins vertrieben. Es war Zeit, ins Bett zu gehen.
    Doch bevor ich den Speisesaal verließ, berührte mich Nora am Arm. »Sie müssen heute Nacht träumen, liebe Agnes. Sie vor allem. Schließlich ist es Ihr Namenstag.« Sie lächelte, aber ihrer Schwester, die neben ihr stand, schien die Bemerkung peinlich zu sein. In dem Gedicht ging es schließlich um junge Fräulein.
    Aber in jener Nacht träumte ich tatsächlich. Das Gesicht, das mir erschien, hätte ich nie erwartet. Es war nicht mein Vater und auch nicht der tote William Howlett. Ich war nicht auf dem Schiff, sondern in Montreal im Museum, umgeben von Regalen mit Präparaten. Es war das alte Museum, bemerkte ich im Traum, vor der Zerstörung durch den Brand. Alles war auf wundersame Weise intakt. Die Knochen unbeschädigt und weiß, die Gläser heil und ordentlich aufgereiht. Selbst mein Lieblingspräparat, das Howlett-Herz, stand auf der Ecke meines Schreibtischs, wo es immer gestanden hatte.
    Ich musste versucht haben, etwas zu sagen, denn ich wachte von meinem eigenen Stöhnen auf. Ein paar Sekunden lag ich reglos da, erinnerte mich an den Traum und daran, wie die blonde Nora nach dem Dinner darauf bestanden hatte, dass ich in der Nacht eine Vision haben müsse. Es lag sicher am Wein und an seiner Auswirkung auf meine labilen Nerven, dachte ich, während ich mich aufsetzte und nach einer Strickjacke griff. Mein Blick wanderte durch die Kabine, registrierte mit zunehmender Wachheit die Einzelheiten – die blassgrünen Wände, das dicke Rohr unter der Decke, das beschlagene Bullauge. Ich seufzte und legte mich wieder hin. Da war ich nun hier auf dem Meer, dreitausend Meilen entfernt von zu Hause, und wer erschien mir? Jakob Hertzlich.

31
    30. Januar 1919
    A m Morgen nach meiner Ankunft in Montreal nahm ich den Zug nach St. Andrews East. Ich war seit eineinhalb Wochen ständig in Bewegung und freute mich darauf, zur Ruhe zu kommen. Von außen sah die Priory genauso aus, wie ich sie verlassen hatte, vielleicht ein bisschen schäbiger. Im Inneren war sie jedoch warm und gastlich.
    George kam aus der Küche. »Du bist’s!«, rief sie überrascht.
    Ich hatte mein Kommen nicht angekündigt. Mir war ja selbst nicht klar gewesen, dass ich mich als Erstes in den Zug setzen würde, um sie zu sehen. Seit meiner Abreise nach Übersee schien ich aus Impulsen heraus zu leben und dem Instinkt zu folgen statt der Vernunft. Ich ging zu ihr und drückte sie lange. Es war keine entspannte Umarmung. Ich hatte ihre Arme mit meinen festgeklemmt, was ihr nicht behagte. Doch als sie sich von mir freimachte, sah ich, dass sie sich freute.
    Ich ging ins Wohnzimmer, das von der Wintersonne durchflutet war. Draußen herrschte immer noch Frost, aber hier drinnen war es gemütlich. George hatte die Gardinen abgenommen. Licht fiel herein, ließ den Raum groß und luftig erscheinen. Sie hatte Großmutters Teppiche entfernt, die Dielen geschrubbt und gewachst. Das ganze Haus war gründlich geputzt worden, sein gesamter Inhalt gesichtet und sortiert. All die Dinge, die sich im Laufe des Familienlebens von drei White-Generationen angesammelt hatten, warteten in Taschen und Kartons auf meine Erlaubnis, bedürftigen Familien in der Gemeinde zugeteilt zu werden.
    Als ich
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