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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Eichhörnchen auf eine Kiste gelegt und mit einem Lappen zugedeckt, damit es nicht gefror. Die Wunde an seinem Kopf blutete nicht mehr, sah aber immer noch rot und frisch aus. Ein Hund oder ein anderes Tier musste den Schädel mit den Zähnen gepackt haben, doch irgendwie war das Eichhörnchen entkommen und hatte sich durch den Schnee auf Großmutters Grundstück geschleppt, wo ich es in der Frühe nicht weit von der Scheunentür entdeckt hatte. Da hatte es noch geatmet, und sein Körper war noch warm gewesen und hatte gezittert.
    Jetzt atmete es nicht mehr, und seine Augen waren glasig. Ich blies auf meine klammen Finger und ging zu meiner Instrumententasche. Sie war nicht aus Leder wie die von Archie Osborne, dem Arzt von St. Andrews East. Sie war aus Sackleinen und hatte vorher Kartoffeln enthalten. Ich hatte sie aus Großmutters Küche stibitzt, genau wie den größten Teil ihres jetzigen Inhalts. Ich holte ein Küchenmesser heraus, einen Wetzstein und meine Stecknadeln, die ich in einem Döschen hatte, in dem früher zuckerbestäubte Halspastillen gewesen waren. Die Schneide meines Messers war hauchdünn und hatte mehrere Scharten. Das Ding machte nicht viel her, aber als Skalpell konnte ich es trotzdem verwenden. Ich fuhr ein paarmal mit dem Wetzstein die Klinge entlang, brach dann das Eis im Eimer, der neben der Tür stand, mit dem Absatz auf und tunkte das Messer hinein, um den Zuckerstaub abzuwaschen.
    Mein Totenhaus ließ einiges zu wünschen übrig. Im Januar war es für einen einigermaßen angenehmen längeren Aufenthalt zu kalt. Aber im Verlauf von zwei Wintern hatte ich mich daran gewöhnt, hier zu arbeiten. Alles war bestens durchorganisiert: Das Mikroskop stand in der hinteren Ecke unter einer Plane, und auf dem Boden, an der Wand entlang, reihten sich einundzwanzig Einmachgläser von Großmutter, unter Stroh versteckt. Über den Einmachgläsern, auf einem Regal, das nur aus einem alten Brett bestand, befand sich meine anatomische Sammlung, bestehend aus drei toten Marienkäfern, dem Panzer einer Zikade , dem getrockneten Unterkiefer einer Kuh. Und noch meine größte Kostbarkeit: zwei Schmetterlinge, mit Glasrahmen und Faden in einem besonderen Behältnis arrangiert, nämlich dem einzigen echten Laborglas, das ich zwei Jahre zuvor gerettet hatte, ehe Großmutter die Hinterlassenschaften meines Vaters auf den Schrottplatz karren ließ. Nur drei Dinge hatte ich mir genommen – das Mikroskop meines Vaters mit den Glasplättchen, ein Lehrbuch und dieses Glas. Mehr war nicht möglich gewesen, weil meine Großmutter es sonst bestimmt gemerkt hätte.
    Jeder, der zur Tür hereinschaute, musste die Gegenstände in meinem Sektionsraum für das übliche Zeug halten, das in einer Scheune lagerte. Großmutter hatte Laure und mir verboten, hier zu spielen, weil die Bodenbretter angeblich verrottet waren und wir einbrechen und uns verletzen würden. Ich musste also durch die Hintertür eintreten, die über einen Pfad durch den Wald, der an Großmutters Grundstück grenz te, erreichbar war.
    Die gelben Zähne des Eichhörnchens guckten zwischen den Lippen hervor. Die Pfoten, die es gekrümmt vor der Brust hielt, als würde es betteln, ließen sich beim besten Willen nicht öffnen. Das Tier wurde schon steif, doch ob es an der Kälte lag oder ob es die Totenstarre war, vermochte ich nicht zu sagen. Die Beine waren ebenfalls schwer zu bewegen, aber irgendwie gelang es mir, den Körper so hinzubiegen, dass das Eichhörnchen auf dem Rücken lag, wie ein winziger Mensch. Meine Stecknadeln verströmten einen leisen Zuckerduft, der nicht zum Geruch des frisch verstorbenen Eichhörnchens pass te. Ich schnupperte, während ich den Körper fixierte, zuckte zusammen, als die Metallnadeln durch die Haut drangen. Als letzten Schritt der Vorbereitung musste ich das Mikroskop herbeischleppen und neben dem Sektionsbereich auf die Kiste stellen, damit es schnell zugänglich war.
    Mein Messer durchstach die Bauchhaut, und ein Strahl rosaroter Flüssigkeit schoss im Bogen hervor, genau auf den Kamelhaarmantel, den mir Großmutter zu Weihnachten genäht hatte. Ich fuhr zurück, starrte wie eine Idiotin auf die Spritzspur vorn auf dem Mantel, griff dann nach meiner Schürze. Ich hatte nicht aufgepasst. Das passierte mir öfter, und ich wusste es auch, weil Großmutter es mir jeden Tag vorhielt. Sie hatte recht. Ich neigte dazu, die simpelsten Dinge zu vergessen: Meine Frisur war oft halb aufgelöst, und die Strümpfe warfen um meine
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