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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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um, wie Großmutter es ausdrückte, meine »Kanten zu glätten« und mir zu helfen, vom Kind zur Frau zu werden.
    Beide musterten mein Messer und die fleckige Metzgerschürze. Dann sahen sie das Eichhörnchen mit dem aufgeschlitzten Bauch.
    »Agnes«, sagte meine Großmutter. Es klang wie ein Seufzer, und plötzlich schien sie zu schrumpfen. In ihren oft so harten Augen lag jetzt etwas Neues, das mich noch mehr beunruhigte als das Schrumpfen. Es ist Angst!, wurde mir plötzlich klar. Meine Großmutter hatte Angst.
    Sie packte meine Schürze am vergleichsweise saubersten Zipfel und versuchte, sie mir über den Kopf zu ziehen, aber das Band verfing sich an meinem Ohr. Inzwischen hatte sie meinen blutigen Mantel entdeckt. Sie ließ die Schürze los und hielt sich die Augen zu.
    Ich hatte Großmutter noch nie weinen sehen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das passieren könnte; sie war immer so beherrscht und hart. Ich selbst war das genaue Gegenteil, brach beim geringsten Anlass in Tränen aus, rannte in die Scheune oder in den Wald hinterm Haus, um meiner Wut und Traurigkeit Luft zu machen. Großmutter fand diese Anfälle unerträglich. Sie bezeichnete sie als »Theater« und warnte mich, wenn ich dieses kindische Verhalten nicht ablegte, wäre ich zu einem schweren, einsamen Leben verdammt.
    Und jetzt weinte sie selbst, vor mir und Miss Skerry. Meine Gedanken rasten zu einer anderen Situation zurück, die hundert Jahre her war – jedenfalls fühlte es sich so an, obwohl es in Wahrheit nicht einmal zehn Jahre waren. Auch mit einem weinenden Erwachsenen. Dass ich so emotional war, dachte ich immer, hatte ich von ihm geerbt, von meinem Vater. Großmutter sagte das sogar selbst, wenn sie wütend war, sie nannte es mein »gallisches Blut«. Ich war die Abnormität in der Familie, dunkel und zu Tränenausbrüchen neigend, und meine Art zu denken wirkte in diesem kleinen presbyterianischen Städtchen beunruhigend fremd.
    »Es ist nicht, wie du denkst«, sagte ich. »Ich habe es nicht getötet.«
    Ich wollte sie beruhigen, erreichte aber genau das Gegenteil. Es war das Wort »getötet«. Ich hätte es nicht gebrauchen dürfen, denn meine Großmutter musste an ihren Schwiegersohn – meinen Vater – denken und seine arme tote Schwester.
    Ich habe nie ein Bild von meinem Vater gesehen – nachdem er uns verlassen hatte, wurde kein Foto von ihm aufgehoben, sodass ich mir kein eigenes Urteil bilden konnte –, aber alle in St. Andrews East sagten, ich sei ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Leute hüteten ihre Zunge, weil sie Großmutter nicht ärgern wollten, aber manchmal rutschte es ihnen doch heraus. Archie Osborne, der Arzt, sagte es sogar fast jedes Mal, wenn er mich sah. Und mir war natürlich bewusst, dass ich überhaupt nicht so aussah wie Laure, die blauäugig und blond war und die zierliche Statur der White-Frauen hatte. Ich hatte eine Hautfarbe wie eine Zigeunerin und war kräftig. Die Damen, die zum Tee in die Priory kamen, wie unser Haus genannt wurde, ergingen sich immer darüber, wie hübsch Laure doch war. Man konnte ja auch kaum anders, weil sie aussah wie ein Engel mit ihren wallenden Haaren, gelb wie Maisfäden. Wenn sie merkten, dass ich ebenfalls im Zimmer war und Kandiszucker herumreichte, folgte betretenes Schweigen. »Agnes ist ja so intelligent «, kam es als jämmerlicher Wiedergutmachungsversuch.
    Die Intelligenz, so hieß es allgemein, hatte ich ebenfalls von meinem Vater – aber für ein Mädchen war es nicht so günstig, ein Bücherwurm zu sein, vor allem, wenn man nicht hübsch war. Großmutter vertrat die Theorie, dass ich mir durch das viele Lesen die Augen verderben würde. Ich glaubte ihr nicht, weil sie selbst schlechte Augen hatte und nie ein Buch aufschlug außer der Bibel. Und auch die nur einmal in der Woche, am Sonntag.
    Großmutter hielt meinen Vater für einen Mörder. Sie sagte es nie, und nachdem er fortgegangen war, vermied sie es, überhaupt von ihm zu sprechen. Es war, als wäre er tot wie meine Mutter. Großmutter ging sogar so weit, unseren Namen zu ändern. Zwei Jahre nach dem Verschwinden meines Vaters und einige Monate nach Mutters Begräbnis legten Laure und ich offiziell den Namen Bourret ab und hießen von da an White. Außerdem fiel der Akzent von Agnès unter den Tisch, sodass ich von da an Agnes war. Meine Großmutter wurde unser gesetzlicher Vormund.
    Das Eichhörnchen war einfach zu viel für sie. Ich begriff es erst zu spät, sonst wäre ich
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