Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
Vom Netzwerk:
Knöchel Falten.
    Bis zu diesem Tag in der Scheune hatte ich hauptsächlich mit Pflanzen und Insekten gearbeitet. Das, was richtigen Lebewesen am nächsten kam, waren die winzigen Kreaturen gewesen, die im schleimigen Schaum von Tümpeln wohnten oder in verdorbenem Fleisch nisteten. Jetzt war mir zum ersten Mal ein richtiges Tier in die Hände gefallen, in dessen Adern das Blut noch warm war. Ich stach das Messer abermals ein, schnitt die Rumpfmitte hinab und schlitzte dann an beiden Enden die Haut auf, rechtwinklig zum ersten Schnitt, damit eine Tür zum Bauchinneren entstand. Als nächsten Schritt klappte ich die Haut auf und steckte sie fest, sodass die dunklen Innereien freilagen. Meine Finger waren nass und rot. Hinter mir schnappte jemand nach Luft.
    Laure stand in der Tür, die behandschuhten Hände vor dem Mund, die Augen leicht nach oben verdreht. Sie schwankte, und ihre Pupillen weiteten sich zu schwarzen Löchern.
    Ich versteckte die Hände hinter dem Rücken. »Laure«, sagte ich schnell, »alles in Ordnung. Es ist nichts. Ich wasche es ab.« Hektisch tauchte ich die Hände in den Eimer.
    Meine Schwester ist ein besonderer Fall. Sie kann nicht mit ansehen, wie ein Huhn ausgenommen wird. Wir müssen immer darauf achten, dass die Küchentür fest zu und Laure in ihrem Zimmer ist, wenn wir Fleisch fürs Essen vorbereiten.
    Laure schwankte jetzt nicht mehr, was ich als gutes Zeichen nahm, aber ihre Pupillen waren nur noch stecknadelkopfgroß. Sie war so steif wie das Eichhörnchen auf meinem Sektionstisch. Während sie totenstarr dastand, deckte ich alles zu, was sie schockieren könnte. Ich zog den Flanelllappen wieder über das Eichhörnchen, aber sofort erschien über dem Bauch ein rubinrotes Auge, das immer größer wurde. Dann riss ich mir die Schürze herunter und steckte die Hände erneut in den eisigen Eimer, um sie zu schrubben.
    Laure stöhnte. Auf die Trance folgten immer Tränen, verbunden mit Kopfschmerzen, die sie tagelang ans Bett fesseln konnten. Ich redete beruhigend auf sie ein, aber natürlich bekam sie nichts mehr mit. Es dauerte mindestens noch eine Minute, bis sie sich wieder bewegen konnte und weinend und leise nach Großmutter rufend zum Haus humpelte. Der Arzt, den wir konsultiert hatten, hatte einen französischen Namen dafür: Petit Mal . Er sagte, das sei nicht so ernst wie Grand Mal , was ein ausgewachsener epileptischer Anfall sei, aber trotzdem ein Leiden, das wir im Auge behalten müssten. Die Ursache kenne niemand, wenn auch im Hintergrund oft ein Trauma stehe – ein schweres Fieber in der Kindheit oder auch eine seelische Erschütterung. Das Hauptsymptom waren die Absencen. Laure entglitt in eine Trance, und nichts, was man sagte oder tat, vermochte sie wachzurütteln.
    Der Körper des Eichhörnchens wurde mit jeder Sekunde steifer, aber ich war nicht über die Vorarbeiten hinausgekommen. Vor Enttäuschung war auch ich den Tränen nahe. Laure kam eigentlich nie in die Scheune. Warum musste sie sich ausgerechnet den heutigen Tag aussuchen, um mir nachzulaufen? Das Eichhörnchen grinste höhnisch. Siehst du, schien es zu sagen. Steck die Finger in den Bauch eines Leichnams, und schon folgt der Ärger auf dem Fuß! Ich schloss die Augen, um die gelben Zähne auszublenden. Wenn ich überhaupt etwas erreichen wollte, musste ich es jetzt tun. Vielleicht brabbelte Laure ja wirres Zeug, und Großmutter steckte sie einfach ins Bett. Es war nur eine winzige Chance, aber das Hoffen konnte einem keiner verbieten. Ich griff nach meiner Schürze.
    Bis Großmutter kam, hatte ich es immerhin geschafft, das Herz zu lokalisieren. Und etwas, das die Leber sein musste. Großmutter marschierte in die Scheune, die alten Augen grimmig zusammengekniffen. Sie war eine kleine Frau, gerade mal einen Meter fünfzig, aber die Leute hielten sie für größer, was an ihrer Haltung und ihrem Gang lag. Sie hätte einen großartigen General abgegeben – nicht nur deswegen. Sie trug die Arbeitsstiefel meines toten Großvaters, die sie für Notfälle immer an der Küchentür stehen hatte, und in der Eile hatte sie ihren Hut vergessen. Ihr Haarknoten war halb aufgelöst: Ein paar silberne Strähnen schlängelten sich über ihren Rücken, wie bei Medusa. So unordentlich hatte ich sie noch nie gesehen, und ein paar Sekunden lang starrten wir uns nur an, mit offenem Mund. Zu allem Übel war sie nicht allein. Sie hatte Miss Skerry im Schlepptau. Miss Skerry war die neue Gouvernante, ausdrücklich dafür engagiert,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher