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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Sektionsraum eingerichtet, der ganz ähnlich war wie das Anatomielabor meines Vaters in Montreal. Miss Skerry musterte mich. »Dein Vater war ein Mann der Wissenschaft. Könnte es sein, Agnes, dass du das auch werden möchtest?«
    Ich nickte wieder, aber dann bemerkte ich den Fehler. »Kein Mann der Wissenschaft, Miss Skerry«, korrigierte ich sie. »Ich bin ja schließlich ein Mädchen.«
    Sie lachte so schallend, dass ich zusammenzuckte. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war Miss Skerrys Gesicht richtig freundlich. »Ein Mädchen der Wissenschaft also«, sagte sie. »Natürlich. Stimmt.« Sie lachte wieder. »Du bist ein Original, Agnes White. Das kann dir niemand absprechen.«
    Miss Skerry und ich redeten an dem Tag noch eine ganze Weile lang. Sie erzählte mir, dass auch sie die Tochter eines gelehrten Mannes sei. Er war nicht Wissenschaftler gewesen wie mein Vater, sondern Lehrer an einer privaten Bildungsanstalt für Knaben. Seine Leidenschaft war Naturkunde gewesen, und er hatte diese Leidenschaft seiner Tochter vermittelt, als wäre sie einer seiner Schüler. »Er hat mich ständig in Sümpfe und Moore mitgeschleppt, wo wir irgendetwas sammelten«, erzählte sie und lächelte bei der Erinnerung. »Und in der Schule gab es ein Mikroskop, auch wenn ich gestehen muss, dass es im Vergleich zu deinem primitiv war.«
    Irgendwann im Laufe des Nachmittags entdeckte sie mein Glas mit den Schmetterlingen. »Das ist wohl auch Honoré Bourrets Werk?«, sagte sie und drehte das Glas im Licht. Es waren Monarchfalter, groß und farbenprächtig. Die Flügel waren ausgebreitet, damit man die Zeichnung sehen konnte. Sie wippten auf und ab wie im Flug.
    Auf dieses Präparat war ich besonders stolz. Bis dahin hatte außer mir keine Menschenseele es gesehen. »Nein«, sagte ich mit fester Stimme. »Das ist von mir.«
    Statt das tote Eichhörnchen zu vergraben, führten Miss Skerry und ich an jenem Nachmittag die Sektion zu Ende. Meine Gouvernante war ganz aufgeregt, als ich ihr meinen illustrierten Band über die menschliche Anatomie zeigte und wir darin nachschauten, ob ich das Herz auch richtig identifiziert hatte. Miss Skerry meinte, wir sollten es, zusammen mit den Nieren und der Leber, in Salzlake einlegen, damit wir es für künftige anatomische Studien verwenden konnten.
    Wir fanden die Bauchspeicheldrüse, die laut Buch den Zucker im Blut regulierte, und die Gallenblase, die bei der Fettverdauung half. Miss Skerry überließ mir das Sezieren und las aus dem Buch vor, während ich schnitt und feststeckte. Ihr machte das Blut nichts aus, was die Sache sehr erleichterte. Aber viel wichtiger noch: Sie fand auch nichts dabei, dass mich das tote Eichhörnchen so faszinierte. In ihren Augen war das nicht anormal, jedenfalls nicht im üblichen Sinn des Wortes.

2
    G egen halb fünf, als der Himmel vor dem Scheunenfenster schon allmählich dunkel wurde, nahmen Miss Skerry und ich die Überreste des Eichhörnchens mit nach draußen und bestatteten sie im Wald unter Tannenzweigen. Dann schrubbten wir meinen Mantel und die Oberseite der Kiste sauber und räumten die Scheune auf. Das Mikroskop kam wieder in sein Versteck, zusammen mit all meinen Glasplättchen und Fertigpräparaten. Miss Skerry zwang mich nicht, die Sammlung wegzuwerfen, konfiszierte aber die Schmetterlinge. Ich hatte keine große Angst, als wir mit dem Schmetterlingsglas durch den Schnee zum Haus gingen, um den Abendtee zu uns zu nehmen. Inzwischen vertraute ich ihr. Ich wusste, sie war mir wohlgesinnt.
    Die Fenster der Priory füllte warmes Licht, und plötzlich merkte ich, dass ich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit glücklich war. Glücklich, müde und hungrig wie ein Wolf. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt gleich passieren würde, aber mein Gefühl sagte mir, dass der Tag nicht böse enden würde.
    Beim Abendtee erläuterte Miss Skerry ausführlich, welch nützliches Unterrichtsmittel das Mikroskop sein könne. Die besten Mädchenpensionate in Europa würden Naturkunde als Unterrichtsfach anbieten. Das Gerät in der Scheune sei qualitativ herausragend, versicherte sie meiner Großmutter. Ein achromatisches Mehrlinsenmikroskop von Beck, dem besten Hersteller in England. Das alles wurde besprochen, während man Toast mit Butter bestrich und Tee trank, so als plauderten wir über das Wetter oder über Kochrezepte.
    Laure erschien. In Nachthemd und Bademantel setzte sie sich aufs Sofa. Ihr Gesicht war so milchig weiß wie der Tee, den Großmutter ihr
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