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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Da lesen wir immer John Keats vor dem Schlafengehen.«
    »Natürlich«, sagte Miss Skerry, die mir auf dem Weg von der Scheune zum Haus erzählt hatte, dass sie die Naturwissenschaften sehr möge, ihr Lieblingsgebiet aber die Literatur sei. »›Sankt Agnes’ Abend‹.«
    »Das kennen Sie?«, fragte Laure.
    Statt einer Antwort stand die Gouvernante auf und begann, das Gedicht zu deklamieren.
    »Sie kennt es!«, rief Laure. Selbst Großmutter lächelte. Sie nahm den schweren Band Englische Gedichte aus dem Bücherregal und schlug eine Seite mit einer Illustration auf, die einen alten Mann in langen Gewändern zeigte, wie er sich die kalten Finger rieb und kleine Atemwölkchen ausstieß.
    »Soll ich es vorlesen, Georgina, oder wären Sie so freundlich?«
    Miss Skerry nahm das Buch, und wir stellten unsere Stühle im Halbkreis um sie herum. Ich hatte dieses Gedicht schon immer geliebt. Ich lauschte, wie Porphyro durch die Gänge des feindlichen Schlosses schlich und seine schlafende Liebste fand, die wunderschöne Madeline. Es war tiefster Januar, Sankt Agnes’ Abend, und als Madeline erwachte, stand da Porphyro, über sie gebeugt wie der Prinz in Dornröschen .
    Miss Skerry brauchte das Buch gar nicht. Sie sah immer wieder auf, lächelte uns an und sprach den Namen der Heldin aus, als wäre sie eine französische Prinzessin und kein gewöhnliches englisches Mädchen.
    Großmutter schloss die Augen, als Miss Skerry die letzten Zeilen rezitierte. »Großartig gelesen. Sie haben sich selbst übertroffen.« Dann blickte sie auf die Wanduhr in der Diele und erhob sich. Ich studierte gerade die Schlussillustration. Im Schein des Vollmonds sprengte ein Liebespaar auf einem dunklen Ross über ein verschneites Feld. Madeline umfasste Porphyros Taille, und ihre Haare wehten wie ein Umhang. Ich spürte regelrecht den Pferdeleib zwischen meinen eige nen Beinen und die Wirbelsäule des jungen Mannes an mei ner Brust.
    »Abwasch vor dem Zubettgehen, Agnes«, verkündete Großmutter und sah mich dabei fest an. »Hier wird sich nicht vor den häuslichen Pflichten gedrückt, ganz egal, wie man heißt.«
    »Agnes ist die Schutzheilige der Jungfrauen«, sagte Laure kichernd.
    Ich blickte auf meinen Schoß. Ausgerechnet diese Heilige war meine Namenspatronin.
    »Schsch, Laure«, sagte Miss Skerry. »Ich wette, du weißt nicht mal, was ›Junk-frau‹ bedeutet.«
    Sie äffte Laures Aussprache bei dem Wort nach, und wir mussten lachen, aber dann ging Großmutter hinaus, weil ihr diese Wendung des Gesprächs nicht gefiel. Ich blieb sitzen, den Blick auf Miss Skerry geheftet. Ich wusste selbst nicht genau, was eine Jungfrau war, und hoffte, sie würde mich aufklären. Ich wusste nur, es hatte irgendwie mit Männern zu tun und mit Sex. Eine Frau war Jungfrau, bevor sie heiratete, und danach war sie es nicht mehr. Wenn sie nie heiratete, blieb sie vielleicht für immer Jungfrau, wie es anscheinend bei der Gouvernante der Fall war.
    Laure war bester Laune, weil sich endlich die belastende Stimmung des Nachmittags gelöst hatte. »Agnes hat zu viel gegessen, da kann es nicht klappen«, zog sie mich auf. »Eigentlich hätten wir fasten müssen.«
    »Unsinn«, sagte Miss Skerry. »Weil deine Schwester Agnes heißt, bedeutet das, dass sie an diesem Abend von den Regeln ausgenommen ist.«
    »Laure hat recht«, sagte ich und bereute irgendwie, dass ich so viel zu Abend gegessen hatte. »Man muss mit leerem Magen zeitig zu Bett gehen und ganz still liegen und an die Decke schauen.«
    »In den Himmel«, korrigierte mich Laure, obwohl in unserem gemeinsamen Schlafzimmer die Decke das Einzige war, was wir sehen konnten. »Und dann kommt Sankt Agnes mit dem Mann, den man einmal heiratet.«
    »Ach, ja?«, sagte Miss Skerry. »Das hört sich ja an, als würdest du dich auskennen.«
    »Ich mach’s jedes Jahr«, sagte Laure.
    »Tja, dann dürften deine Hochzeitsglocken ja bald läuten.« Miss Skerry lächelte über die kleine Jungfrau, die jetzt schon vom Heiraten träumte. »Und du, Agnes?«, fragte sie. »Praktizierst du dieses Ritual ebenfalls?«
    Ich spürte, wie ich rot wurde. Es war Aberglaube, das wusste ich. Die Art Aberglaube, die mein Vater verächtlich abgetan hatte. Und doch gefiel es mir. Es war ein Ritual, das uns Großmutter beigebracht hatte, als wir noch klein waren. Ich schaute unsere Gouvernante an und nickte.
    »Dann sollte ich es wohl auch mal probieren«, sagte Miss Skerry. »Wenn ein Intellekt wie deiner es akzeptiert, kann es mir
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