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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Anfängerin. Ich glaube nicht, dass ich vorher jemals ein Mikroskop angefasst hatte, und trotzdem wusste ich irgendwie, was man machen musste. Und was ich nicht wusste, fand ich durch Probieren heraus.
    »Das hat mir keiner beigebracht«, sagte ich entschieden. »Ich hab’s mir wahrscheinlich abgeguckt, als ich klein war. Mein Vater hatte bei uns zu Hause einen eigenen Sektionsraum.« Ich sah den Raum vor mir, so deutlich wie Vaters Gesicht, aber davon erzählte ich ihr nichts. »Es gab überall Borde mit Gläsern. Keine Einmachgläser, wie ich sie benutze«, setzte ich schnell hinzu. »Richtige Laborbehälter aus dickerem Glas. In denen hatte er seine Präparate – kranke Herzen und Lungen und so was. Die hat mein Vater herausgeschnitten. Das war sein Beruf. Und da war auch ein Skelett, ein echtes, nicht viel größer, als ich mit vier war. Es war mit Draht zusammengehalten und saß auf einer Stange. Ich habe immer damit gespielt – bis der Arm kaputtging.«
    »Du hast es einfach nur dadurch gelernt, dass du ihm zugeschaut hast?«
    Ich nickte. »Nicht nur ihm. Es kamen noch andere Leute, Studenten von der McGill.« Daran hatte ich seit Jahren nicht mehr gedacht. Ein junger Mann war ziemlich oft zu uns gekommen, fiel mir jetzt wieder ein. Ich hatte kein richtiges Bild mehr vor Augen, wusste aber noch, dass er nett war und mir Bonbons mitgebracht hatte.
    »Und diese Studenten haben dann unter der Anleitung deines Vaters seziert?«
    »Sie haben seziert und gezeichnet und Sachen präpariert. Das macht man als pathologischer Anatom.«
    »Es hat dich ja offensichtlich sehr beeindruckt.«
    Ich konnte Miss Skerrys Gesichtsausdruck nicht genau erkennen, nickte aber trotzdem. Ja, es hatte mich beeindruckt, aber andererseits war herausgeschnittenes Körpergewebe für mich damals so normal und selbstverständlich wie zum Beispiel Gabardine für das Kind ein Schneiders oder Leder für das eines Schusters. Erst nachdem wir nach St. Andrews East gezogen waren, bekam ich das Gefühl, dass es vielleicht doch nicht so selbstverständlich war.
    »Das da ist alles von dir?«, fragte Miss Skerry und deutete auf meine Insekten- und Knochensammlung. Sie schaute mich nicht an, aber ihr Gesicht war dunkel und ernst.
    »Ja«, sagte ich. Ich hatte beschlossen, ihr gegenüber offen zu sein. Vielleicht würde ja Ehrlichkeit bei diesem ersten Verhör meine Strafe mildern.
    Ich konnte Miss Skerrys Miene immer noch nicht deuten. Sie sah nicht aus, als gefielen ihr meine Arbeiten, die zugegebenermaßen ziemlich improvisiert und unfertig waren, aber zumindest schien sie interessiert. Sie beugte sich wieder über mein Mikroskop und spielte eine Weile lang daran herum. Sie hatte keine Angst vor dem Gerät, ja, sie ging damit um, als wüsste sie, was sie tat, wie ich plötzlich merkte.
    »Ich nehme an, du weißt, woher ›Mikroskop‹ kommt?«, fragte sie, eine Wange an das Okular gepresst. Als ich nicht antwortete, fuhr sie fort: »Es kommt ebenfalls aus dem Griechischen, Agnes. Mikros heißt ›klein‹. Skopos heißt ›Betrachter‹. Größere Griechischkenntnisse hast du dir hier in dieser Scheune nicht auch noch angeeignet, neben diesen ganzen wissenschaftlichen Methoden?« Sie richtete sich auf, und jetzt erst sah ich das Lächeln in ihren Augen. Und ehe ich mich’s versah, fragte sie nach mikroskopischen Präparaten.
    Der einzige Mensch in St. Andrews East, der etwas von Mikroskopen verstand, war der Apotheker. Normale Leute in unserer Stadt wussten darüber nichts und wollten auch nichts lernen. Schon gar nicht die Frauen. Ich war die absolute Ausnahme, und mir war klar, dass ich meine Studien unbedingt für mich behalten musste. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass ich eines Tages in St. Andrews East einen Menschen kennenlernen könnte, mit dem ich dieses Interesse teilte. Ich kniete mich ins Stroh und zog ein kleines Metallkästchen hervor, das die Dauerpräparate meines Vaters enthielt.
    »Honoré Bourret.« Miss Skerry las den Namen von dem Deckel ab, als sie das Kästchen entgegennahm.
    Ich nickte und musste blinzeln. Fast zehn Jahre hatte ich niemanden mehr diesen Namen aussprechen hören.
    »Kein geringes Vermächtnis, das er dir da hinterlassen hat.« Sie wandte jetzt den Blick von mir ab und sah sich in der Scheune um. »Und du hast es zu würdigen gewusst. In gewisser Weise ist das hier eine Hommage.«
    Bis sie es aussprach, war es mir gar nicht bewusst gewesen. Aber es stimmte. Ich hatte an diesem unpassenden Ort einen
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