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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis
Autoren: Katherine Webb
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Flag war, bevor er im Herrenhaus aufgetaucht und dann den Dinsdales in die liebevollen Hände gefallen ist. Manches hat sich in der Vergangenheit verloren – und gewiss ist genau das der Grund dafür, dass die Vergangenheit so geheimnisvoll ist, dass sie uns so fasziniert. Heutzutage wird nicht mehr viel verloren gehen – zu viel wird aufgezeichnet, abgestempelt und irgend wo in einer Akte oder einer Computerdatei abgelegt. Es ist schwieriger geworden, ein Geheimnis zu bewahren, aber es ist immer noch möglich. Harry ist der lebende Beweis dafür. Ich habe festgestellt, dass Geheimnisse mir nicht halb so viel ausmachen, wenn ich sie bewahren kann, wenn ich nicht ausgeschlossen bin.
    Das Herrenhaus wurde für eine Summe versteigert, bei der mir flau im Magen wurde, nur für eine halbe Stunde, als ich mir vorstellte, wohin ich mit so viel Geld hätte gehen, was ich hätte tun können. Clifford war auch bei der Auktion, aber ich habe mich vor ihm versteckt, ganz hinten im Konferenzsaal eines Hotels in Marlborough, während Zahlen hin und her sprangen und immer größer und größer wurden. Ich konnte seine Qual spüren, allein indem ich seinen Hinterkopf betrachtet habe, der starr auf steifen Schultern saß. Er tut mir leid. Vielleicht hatte er gehofft, dass sonst niemand kommen würde, dass niemand das Haus würde kaufen wollen – dass er es für den Preis einer Doppelhaushälfte in Hertfordshire aufkaufen und den Rest seines Lebens jedermann erzählen konnte, das sei der Stammsitz seiner Familie. Aber es kamen eine Menge Leute, und ein Bauunternehmer erhielt am Ende den Zuschlag. Das Haus wird jetzt zu Luxusapartments umgebaut, genau wie Maxwell vorgeschlagen hat, weil selbst diese Gegend hier inzwischen als Einzugsgebiet für Pendler gilt – von Pewsey nach London und zurück, jeden Tag. Ich habe keine Idee, wie es von innen aussehen wird, wenn es irgendwann fertig ist. Was wird mein kleines, nach hinten gelegenes Schlafzimmer dann sein? Eine Küche mit Arbeitsflächen in schwarzem Granit? Ein bis unter die Decke gefliestes Edelbad? Ich kann es mir nicht vorstellen, und ich bin halb versucht, hinzugehen und mir die Musterwohnung anzusehen, wenn sie fertig ist. Aber nur halb. Ich glaube nicht, dass ich es wirklich tun werde. Ich will meine Erinnerungen an das Haus behalten, wie es war.
    Ich denke oft an Caroline und Meredith. Ich denke daran, was Dinny gesagt hat – dass Menschen, die andere schikanieren und hassen, Menschen, die kalt und aggressiv sind, keine glücklichen Menschen sind. Sie verhalten sich so, weil sie unglücklich sind. Es fällt mir schwer, Mitgefühl für Meredith aufzubringen, weil ich so schlimme Erinnerungen an sie habe, aber nun, da sie tot ist, gelingt es mir, wenn ich mir Mühe gebe. Ihr Leben war von Enttäuschungen geprägt – ihr einziger Versuch, sich aus ihrem lieblosen Zuhause zu befreien, endete so bald, nachdem er begonnen hatte. Es wäre mir noch schwerer gefallen, Mitgefühl für Caroline aufzubringen, weil ich sie im Grunde kaum kannte und weil sie sich dafür entschied, ein Kind auszusetzen, um dann ein zweites so lieblos großzuziehen. Es wäre leicht gewesen, daraus zu folgern, dass sie einfach nicht lieben konnte. Dass sie dazu nicht fähig war. Dass sie zu kalt war, um wahrhaft menschlich zu sein, dass sie mit diesem Makel geboren wurde. Doch dann fand ich den letzten Brief, den sie vor ihrem Tod geschrieben hatte; und deshalb weiß ich es besser.
    Der Brief lag wochenlang unentdeckt in der Schreibmappe, nachdem ich das Herrenhaus verlassen hatte. Weil sie ihn nie abgeschickt, ihn nicht einmal von dem Schreibblock abgerissen hatte. Er war die ganze Zeit über da, unter dem Lederdeckel, noch mit dem Linienblatt dahinter. Ihre krakelige Schrift windet sich über die Seite, als wäre sie in Auflösung begriffen. Der Brief ist mit 1983 datiert. Tag und Monat sind nicht angegeben, also war das Jahr vielleicht alles, was sie zustande brachte. Sie war damals schon um die hundert Jahre alt und wurde immer schwächer. Sie wusste, dass sie bald sterben würde. Vielleicht hat sie deshalb diesen Brief geschrieben. Vielleicht hat sie deshalb vorübergehend vergessen, dass sie ihn nie würde abschicken können, dass ihn niemand lesen würde, bis ich über ein Vierteljahrhundert später darauf stieß.
    Mein liebster Corin,
    seit ich Dich verlor, ist so viel Zeit vergangen, dass ich die Jahre nicht mehr zählen kann. Ich bin jetzt alt – alt genug, um selbst auf den Tod zu warten. Doch
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