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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht
Autoren: Andreas Laudan
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Frey, die in der ersten Reihe saß, nutzte die Gelegenheit und schoss rasch ein Foto.
    «Sie fragen sich vielleicht», fuhr Tia Traveen fort, «warum gerade diese seltene Spezies Beachtung verdient. Wenn wir vonTierschutz sprechen, denken wir meist an Tiere, die uns emotional ansprechen: an langbeinige Rehe, flauschige Nerze und süße Seehundbabys. Der Grottenolm ist glatt und schleimig und verfügt nicht einmal über Augen, mit denen er uns herzerweichend anblicken könnte. Niemand von Ihnen würde es bemerken, wenn der Grottenolm ausstirbt, denn er steht zum Menschen in keiner unmittelbaren Beziehung – dennoch ist er ein faszinierendes Stück Natur, das zum Reichtum unserer Welt beiträgt. Und diesen Reichtum, meine Damen und Herren, sollten wir nicht leichtfertig gefährden.»
    Die Zuhörer klatschten. Carolin legte das Fotohandy aus der Hand und griff nach ihrem Notizblock. Der Vortrag war durchaus interessant gewesen, aber für die Leser einer Kreiszeitung gaben die Lebensbedingungen slowenischer Höhlentiere kein besonders aufregendes Thema ab. Es würde der Sache erheblich mehr Farbe verleihen, wenn die Geschichte mehr ins Persönliche ging. Also wartete sie, bis der Beifall verebbt war, wobei sie die junge Frau am Mikrophon aufmerksam musterte.
    Eine bemerkenswerte Person, fand Carolin. Nach ihren Recherchen war Tia Traveen erst Mitte zwanzig, wirkte jedoch sehr reif und souverän, vor allem aufgrund ihrer routinierten Vortragsweise. Man merkte ihr an, dass sie es gewohnt war, vor Zuhörern zu sprechen. Ihre Stimme war angenehm voll und dunkel, dabei ein wenig kühl, ideal für eine Nachrichtensprecherin. Ihre äußere Erscheinung stand dazu in merkwürdigem Gegensatz. Zu Beginn des Vortrags hatte sie die getönte Brille abgelegt, und der ziellose Blick ihrer blinden Augen wirkte leicht irritierend, wenn man längere Zeit hinsah. Gewöhnungsbedürftig war zudem, dass sie in Jeans und T-Shirt auftrat und vollständig ungeschminkt war.
    Nicht dass sie Make-up nötig hätte, dachte Carolin mit einem Anflug von Neid.
    «Haben Sie noch Fragen?», sprach Tia Traveen die magischen Worte aus.
    «Ja, bitte!», ergriff Carolin die Gelegenheit und beugte sich vor. «Carolin Frey, vom Lindener Anzeiger. Ich würde gern auf Ihre Teilnahme an Rettungsaktionen zu sprechen kommen. Sie sind ja nicht nur eine bekannte Wissenschaftlerin, sondern engagieren sich immer wieder bei der Bergung von Verunglückten.» Sie spickte kurz auf ihren Notizblock. «Vor zwei Jahren haben Sie auf Malta eine Touristin gerettet, die sich beim Begehen einer Höhle schwer verletzt hatte – nur weil Sie zufällig in der Gegend waren. In Slowenien haben Sie ein vermisstes Paar aufgespürt, das vom Regen überrascht und in einer Felsengrotte eingeschlossen wurde. Vor allem aber haben Sie sich beim Grubenunglück in der Schachtanlage Biedersheim einen Namen gemacht.»
    Tia, die Carolin ihr Gesicht zugewandt hatte, lächelte nachsichtig. «Sie dürfen mir glauben, dass es nicht meine Absicht war, mir damit einen Namen zu machen. Unglücksfälle unter Tage sind eine heikle Sache und erfordern spezialisierte Hilfe. In einer Höhle funktioniert kein Mobilfunk und kein GPS, weshalb es schwierig ist, Vermisste zu finden. Außerdem drohen erhebliche Gefahren: Verschüttungen, Wassereinbrüche, Stürze, zu schweigen vom Erfrieren. Unfälle im Bergbau sind besonders tragisch, denn oft kosten sie viele Menschenleben. Bei dem Schachteinsturz in Biedersheim wurden glücklicherweise nur vier Kumpel von der Tagwelt abgeschnitten – und wir konnten sie alle retten.»
    «Sie meinen:
Sie
konnten sie retten», präzisierte Carolin. «Man hat sie als Heldin gefeiert. War es nicht so, dass niemand außer Ihnen die Klopfgeräusche der Verschütteten hören konnte?»
    «Nun ja   … ich habe ein recht empfindliches Gehör.»
    «Und stimmt es auch, dass die vier Männer nur deshalb so schnell geborgen werden konnten, weil Sie sich trotz der Explosionsgefahr in den Schacht abseilen ließen?»
    «Es bestand keine Explosionsgefahr», stellte Tia richtig. «Die Werksleitung befürchtete es zwar, aber ich konnte riechen, dass die Kohlenstaubkonzentration zu gering war, um explosive Gemische zu bilden. Deshalb bin ich das Risiko eingegangen.»
    «Stimmt es, dass Sie mehrere hundert chemische Verbindungen am Geruch erkennen können?»
    Tia zuckte die Achseln. «Ich habe nie nachgezählt. Richtig ist, dass ich – wie viele blinde Menschen – einen ziemlich ausgeprägten
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