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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht
Autoren: Andreas Laudan
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hinüber, der zum Hauptschacht führte. Er rannte, wie er noch nie im Leben gerannt war. Zwei- oder dreimal hielt er keuchend inne, um einen Blick auf die Karte zu werfen, und hoffte inbrünstig, dass ihm in seiner Panik kein Fehler unterlief.
    Bitte nicht auch noch verirren!, flehte er. Bitte lass mich den Weg wiederfinden!
    Fast war es eine Überraschung, als er unvermittelt auf den Raum mit der Leiter stieß.
    «Warte auf mich!», schrie Laura, die hinter ihm zurückgeblieben war.
    Er musste sich beherrschen, um die wenigen Sekunden verstreichen zu lassen, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann klemmte er den Henkel der Lampe zwischen die Zähne, um beide Hände frei zu haben, und griff nach den Sprossen.
    «Ich kann nicht so schnell!», keuchte Laura unter ihm, als er die erste Plattform erreichte.
    Justin ignorierte sie, biss so fest auf das kalte Metall, dass seine Zähne schmerzten, und kletterte weiter.
    Ich bin schuld, wenn etwas Schreckliches geschieht. Ich bin schuld   …
    Der Gedanke hämmerte unbarmherzig in seinem Kopf und verlieh ihm die Kraft, Sprosse um Sprosse im Eiltempo zu erklimmen. Die zweite Plattform glitt an ihm vorbei, dann die dritte.
    Dreißig Meter   … Halbzeit   … Noch einmal so weit   …
    Seine Hände bewegten sich mechanisch, während die Leiter unter seinen Füßen ächzte. Die vierte Plattform kam in Sicht, die fünfte, endlich die sechste. Justin schwang sich auf das Aluminiumgitter, streckte ungeduldig einen Arm aus und zog Laura zu sich herauf. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, und das schwarze Haar klebte ihr im Gesicht.
    Justin gönnte ihr keine Pause, sondern rannte den Gang hinauf, der zum Eingang des Bergwerks führte. Als der erste Tageslichtschimmer in Sicht kam, ließ er die Lampe fallen und zückte noch im Laufen sein Handy. Ein Rechteck aus blendender Helligkeit tanzte auf ihn zu. Als er ins Freie stürzte, kniff er erschrocken die Augen zusammen, schlug mit der Schulter gegen das Gittertor, taumelte und fiel auf die Knie. Benommen fühlte er Gras unter den Händen, rappelte sich auf und suchte einen Moment lang panisch nach dem Handy, das er fallengelassen hatte. Hinter ihm erschien Laura, die sich gegen die Böschung sinken ließ und keuchend eine Hand auf ihr Herz presste.
    Justin bekam das Handy zu fassen und drückte mit fliegenden Fingern die Tasten. Er zwang sich, einen Augenblick innezuhalten, um seine Gedanken zu ordnen.
    Wen anrufen? Notarzt? – Feuerwehr?
    Wer hatte die nötige Ausrüstung, um zwei Menschen aus einem Bergwerksschacht zu bergen? Justin wusste es nicht   … und ihm fiel nur ein einziger Mensch ein, der sich gut genugunter Tage auskannte, um die richtigen Maßnahmen zu veranlassen.
    «Nun mach schon!», keuchte Laura hinter ihm.
    Was soll’s, dachte Justin verzweifelt. Er erfährt es sowieso.
    Und kurzerhand klickte er im Adressbuch auf «Papa».

••• 19   :   42 ••• BRINGSHAUS •••
    Jörn Bringshaus seufzte, als das Telefon klingelte. Eben erst hatte er es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht und eine Flasche Bier geöffnet. Sein Blick wanderte zur Uhr über der Küchenzeile. Wahrscheinlich war es seine Exfrau – sie rief immer zwischen sieben und acht an. Justin hatte versprochen, das kommende Wochenende bei ihr zu verbringen. Sicher wollte Karin die Einzelheiten besprechen oder vielmehr ihre üblichen Anordnungen treffen. Bringshaus hörte im Geist bereits ihre resolute Stimme.
    «Ich möchte nicht, dass du mitkommst! Lass ihn mit dem Zug fahren. Und wehe, du hetzt ihn wieder gegen mich auf!»
    Als ob das nötig wäre, dachte Bringshaus bitter. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass Justin die Besuche bei seiner Mutter eher als ungeliebte Verpflichtung ansah. Schließlich war es Karin gewesen, die ihre Familie verlassen hatte, um in der Nachbarstadt mit ihrem ehemaligen Chef zusammenzuleben – einem erfolgreichen Architekten, der fünfmal so viel verdiente wie ihr Exmann, seine Geliebte in die Oper ausführte und ihren Sohn als lästigen Gelegenheitsgast ansah, der die penible Ordnung im Kühlschrank störte und mit seinen langen Haaren den Swimmingpool verschmutzte.
    Es klingelte sechsmal, siebenmal, achtmal. Bringshaus fluchte leise, als ihm einfiel, dass der Anrufbeantworter abgeschaltet war.
    Neunmal, zehnmal.
    «Jaja!», fauchte er, knallte die Bierflasche auf den Tisch und fuhr in die Höhe. «Ich komme ja schon!»
    Er griff nach dem Telefon und hielt erstaunt inne, als er Justins
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