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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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wenn es eine Antwort geben konnte, so dachte ich, wäre sie in der Erinnerung zu suchen. Meine schlimme Sehnsucht nahm überhand. Ich entschied mich, Arjeta anzurufen. Sie nahm gleich ab, und im Hintergrund hörte ich, dass ein Lied von R. E.M, ihrer Lieblingsgruppe, lief. It’s the end of the world as we know it. Ich lachte, das wirst du nicht symbolisch meinen, sagte ich. Sie lachte auch. Ich will nur noch etwas zu unserem Gespräch sagen, fing ich an. Sie machte die Musik leiser. Es fiel mir schwer, meine Gedanken auszusprechen. Ich hatte Angst, dass ich stottern könnte. Auf dem Balkon war es einfacher gewesen, in klaren Sätzen zu denken. Sie wartete. Ich weiß nicht, sagte ich nach einer Weile zu Arjeta, ich bin mir nicht sicher, ob nicht auch ich eine andere Frau bin als die, für die ich mich halte. Denn insgeheim glaube ich doch, dass eines Tages auch die Erinnerungen alle in mir zusammenbrechen, in mir müde wegknicken würden, wie ein armes Tier, dem man die Knie eingeschlagen hat. Du hast Angst, dass du deine Erinnerungen verlieren könntest, sagte Arjeta. Ja, vielleicht, sagte ich. Wenn es aber dazu kommt, sagte Arjeta, wenn auch eines Tages die Erinnerungen in uns zusammenbrechen, dann müssen wir bloß ein Niemand werden. Viel Hoffnung gab mir das nicht. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, um ins Kino zu gehen. Vielleicht ließe sich die schlimme Sehnsucht leichter ertragen, wenn man ein Niemand wäre?

    Manchmal, wenn Arjeta und ich Spaziergänge durch den türkischen Teil von Schöneberg machten und auf den Samstagsmärkten Produkte aus Griechenland, Bosnien, Serbien oder Bulgarien sahen, wurde mir klar, wie sehr Marken, Logos, Farben von Dosen und Gerüche mit dem eigenen Gedächtnis gekoppelt waren. Arjeta und ich hängten uns beieinander ein. Manchmal gingen wir nur so herum, sprachen ein, zwei Stunden überhaupt nichts. Ich stellte mir dann vor, wir seien alle auf die Welt gekommen, um einander zu beweisen, dass wir uns doch irgendwie überleben, dass wir immer weiterleben und uns über das Sterben stellen werden. Die schreienden Obst- und Fischverkäufer auf die gleiche Weise wie Arjeta und ich. Das Einzige, was wir aber wirklich tun können, ist über unser Leben zu erzählen. Es ist die einzige Form von Stärke, um der Vergänglichkeit in Würde gegenüberzutreten und dem Verschwinden einen Sinn zu geben. Ich sah Arjeta an, folgte ihrem wachen Blick, der eifrig über die Waren des Marktes glitt. Sie hatte Recht. Das Jetzt ist alles, was wir haben. Die Dinge aber, die wir denken und die wir erlebt haben, vermehren sich manchmal trotzdem ohne unser Wissen im Unsichtbaren. Ich war nicht glücklich, das konnte ich auf diesem Marktgang plötzlich ganz klar denken. Aber ich war mir dennoch sicher, dass Unkraut zur Schönheit wie zur Hässlichkeit im gleichen Maße gehört. Das innere Walten der guten Gedanken, das wächst auch im Inneren. Niemand kann es ausreißen, kein Krieg in uns auslöschen. An gute Gedanken reicht das Unkraut nicht heran. Menschen überleben Kriege, indem sie sich an das helle Augustlicht ihrer Kindheiten, an die hellen Sommer und an die ihnen geschenkten Küsse erinnern. Alles lebt weiter in ihnen, wächst weiter, auf dem wortlosen Gedächtnisgelände. Man sieht nur mit geschlossenen Augen gut. Sogar Arjeta ist einverstanden damit.
    Bevor wir ins Kino gehen, wärmen wir uns aber noch im Kreuzberger Café am Meer auf. Als wir dort einkehren, kann sie es nicht unterlassen, einen Witz über das Sehen mit geschlossenen Augen zu machen. Auf dem Markt hättest du eben auf diese Weise sicher nichts gesehen. Wir bestellen uns Käsekuchen und ausnahmsweise Tee. Ja, das stimmt, sage ich. Ihr Blick ist herausfordernd dabei. Und das ist genau ihre Art, mir beizupflichten. Sie weiß, dass ich es weiß. Deshalb traut sie sich, ab und an mitten in Berlin von ihrer mitteleuropäischen Ironie, wie sie es ausdrückt, Gebrauch zu machen. Dabei weiß sie genau, was ich mit den geschlossenen Augen meine. Sie hat Sehnsucht nach ihrem alten Sarajevo, sie macht oft die Augen zu, um es zu sehen. Sie ist es auch, die sich immer umdreht und zu irgendeinem Fenster geht, hinausschaut, auf die Bäume, die Straßen, die Gärten sieht, wenn die Rede auf die Vergangenheit kommt und ihre Stadt in ihr aufflammt. Sie spricht selten über Sarajevo. Sie sagt es nie als Wort. Ihre Art über Sarajevo zu erzählen, ist über Sarajevo zu schweigen. Die Liebe lebt wie Arjetas Sarajevo vom Unerzählten. Und
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