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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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doch fangen alle, die sich lieben, zuerst damit an, einander ihre Geschichten zu erzählen. Ohne diese Inventur des eigenen Inneren blieben wir lebensblind. Um uns zu sehen, brauchen wir den anderen. Durch den anderen hindurch sprechen wir zu uns selbst, so, wie ich auch zu mir selbst sprach, damals, als ich Ilja traf und nicht wusste, wer ich war, wer ich werden sollte, nach jenem Frühjahr, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben über Monate hinweg nicht schlafen konnte und es mir mit einem Mal rätselhaft vorkam, dass ich es je hatte tun können, dass ich überhaupt jemals zuvor eine Nacht lang durchgeschlafen hatte, ohne an einen anderen Menschen zu denken. Ein ratternder Zug fuhr durch meinen Kopf, quer über die Gleise meiner Erinnerung. Ilja veränderte mein Leben.

3
    Der Zug war voll von Iljas Sätzen und Berührungen, erfüllt von Iljas Lachen, das immer so schnell in die Höhe schoss, als sei die Freude über Jahre an irgendeiner ihm selbst unbekannten Stelle seines Körpers stecken geblieben. Jetzt brach sie wie ein kleiner Vulkan aus. Salven des Glücks sprudelten mir entgegen. Sie waren so ansteckend, dass ich dabei das eigene Lachen wiederfand, ein in mir vergrabenes, wie die Sünde verstecktes Lachen, das sich mir später als einzige Brücke anbot, jenen Abschied zu durchqueren, der mir bevorstand und zu dem ausgerechnet dieses Lachen mich führen sollte.
    Kurz bevor ich Ilja begegnet bin, habe ich mit dem Studium der Bibelwissenschaft begonnen. Ich verstand mich selbst nicht mehr, weder die Physik noch das Schreiben hatten meinen inneren Hunger sättigen können. Eigentlich glaubte ich nicht wirklich, dass die Bibel das auf irgendeine Art und Weise hätte erfüllen können, was Wissenschaft und Literatur nicht erreicht hatten. Und je öfter Ilja und ich miteinander schliefen, desto mehr zog es mich zur Lektüre der Psalmen hin. Ich spielte wieder das alte Spiel, das ich schon als Kind gespielt hatte. Mit geschlossenen Augen schlug ich die Bibel an irgendeiner Stelle auf und entschied schon im Vorfeld, den ersten Satz als eine Art Botschaft für meine jetzige Lebenssituation zu verstehen.
    Eine ganze Weile hatte ich, ohne es zu wissen oder beabsichtigt zu haben, immer das Johannes-Evangelium aufgeschlagen, aber jetzt fügte es sich, dass es nahezu immer die Psalmen waren. Manchmal las ich Ilja vor dem Einschlafen einfach aus der Bibel vor, ohne ihm zu verraten, welche schicksalhafte Bedeutung ich in das Vorgelesene setzte. Ich verschwieg ihm auch, dass es ein Kindheitsspiel für mich war. Aber er schien es von allein zu spüren, schwieg, immer auf eine wissende Art, hörte zu, ohne, wie es sonst seine Angewohnheit war, irgendetwas Verächtliches über Jesus oder Religion allgemein zu sagen. Er machte sogar manchmal mit und schlug selbst die Bibel nach dem Zufallsprinzip auf, las mir laut vor, was er als Erstes auf der Seite sah: Als mein Herz sich erbitterte und es mich in meinen Nieren stach , da war ich dumm und wusste nichts; ein Tier war ich bei dir. Und jetzt du, sagte er. Und ich las ihm vor, was ich als Erstes sah: Die Mess-Schnüre sind mir gefallen in lieblichen Örtern, ja ein schönes Erbteil ist mir geworden .

    Ilja wusste, dass er ein Dieb war. Aber er konnte nicht anders leben. Wir liebten uns. Und mehr als das wussten wir nicht voneinander. In unserem Fall wäre mehr Wissen mehr Liebe gewesen. An diesem Mehr hatte es uns dennoch nicht gefehlt. Wir hatten das Mehr überall in uns, in den Augen, in den Händen, in den Küssen, in unseren Wangen, auch in der Traumnachbarschaft, wenn wir, müde aneinander geworden, durch genau diese Müdigkeit zusammen einschliefen und unsere kleinen Zehen sich im Schlaf von alleine fanden, schon in der ersten gemeinsamen Nacht. Gleich nachdem wir das erste Mal zusammen geschlafen hatten, sagte Ilja mit einem noch kusswarmen Mund, das hier, das hat überhaupt keine Zukunft.

    Während er das sagte, schwor ich mir, ihn nie wieder gehen zu lassen. Es konnte gar nicht sein, dass sein Satz irgendeine Bedeutung hatte, so, wie er mich ansah, auf mich zuging, mit diesen Muttermalen auf seiner Schulter, als hätte das Leben sie nur für mich da hingemalt, so schien er nur für mich auf der Welt zu sein, die Art, wie er mich küsste, als sei er ein junger Hund, direkt auf den Mund, sofort auf die Mitte des Mundes, ohne auch nur ein bisschen zu zögern, das war doch die Art, wie ein Mann seine Frau küsste, eine andere konnte es nicht geben.
    Das ist mein Mann,
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