Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
Vom Netzwerk:
sonst wie in Bildern fühle ich mich seit meiner Kindheit heimisch. Das gefiel Arjeta eigentlich nicht, sie sagte, das sei weder für ein Kind noch für eine Frau wie mich gut. Du warst doch mal Physikerin, sagte sie, das darfst du dir nicht erlauben, nur in Bildern zu leben, das geht nicht, damit schadest du dir. Ich lachte und wusste, dass Arjeta Recht aber ebenso Humor hatte. Meine Art, Recht und Humor zu verdauen, beides auszuhalten, was sie mir sagte, war, zuerst darüber zu lachen.
    Das Lachen war für mich eine Brücke, immer ein Transitbereich, auf dem ich kurz unsichtbar werden konnte. Auch als ich später auf Ilja traf, versuchte ich diese alte Strategie zur Hilfe zu nehmen. Aber es hat nicht funktioniert. Es war zu spät. Der Übergang war vollzogen, und ich hatte das Tor schon passiert, war nun an jener Stelle, an der die Liebe andere Gesetze etabliert. Alles wird anders, wenn du liebst, du findest dich eines Tages in deinem Leben wieder wie in einer dir unbekannten weitreichenden Landschaft. Aber an nichts verrät sie dir mehr die Himmelsrichtungen. Jeder Weg, den du gehst, erweist sich als die Verlängerung eines Rätsels, das du längst gelöst zu haben glaubtest. Wie im Traum verändert sich alles nach Gesetzen, die du nicht kennst. Du gehst, aber der Boden geht nicht mit dir mit. Du fällst, aber es gibt keinen Abgrund, auf dem du ankommst. Nur das Fallen, die Hilflosigkeit, das Unbekannte. Wie kannst du lieben, wenn du selbst nie geliebt worden bist?

    Als Arjeta Ilja kennen lernte, sagte sie, also meine Schöne, ich glaube nicht, dass Ilja so ist, wie er dir vorkommt. Ilja war wieder abgereist. Ich hatte gespannt darauf gewartet, was sie über ihn sagen würde. Ich weiß, was du an ihm liebst, sagte sie, aber er ist nicht so ein großer Liebender. Er kommt dir nur so vor, glaub mir. Aber Arjeta, sagte ich, was ist bloß nur so, wie es einem vorkommt? Wir wussten es beide nicht. Wir saßen in Arjetas Küche und tranken Kaffee und tunkten Apfelstücke in Mandelcreme. Wovon es abhängt, was wir sehen, ist genau das, was unser Sehen bestimmt, sagte ich. Die Muster unter den Mustern. Arjeta nickte. Wir hatten schon einmal über das Muster gesprochen und glaubten, dass es jeder in sich trägt, dass es ein Gewirk aus Erfahrungen, Überzeugungen, Traurigkeiten und Idealen in uns allen gibt. Und dass dieses innere Knäuel unser Sehen bestimmt. Es war uns beiden klar, dass alles, was wir sehen, auch anders gesehen werden kann. Wir sind nicht die ersten, die darüber nachdenken, sagte sie und kaute lange an einem Apfelstück. Aber es ist auch für uns gültig, sagte sie, was Simone de Beauvoir gesagt hat. Es stimmt noch immer, dass es völlig unmöglich ist, an irgendein menschliches Problem mit einem unverstellten Blick heranzugehen. Das gibt es ja gar nicht mehr, sagte ich, einen unverstellten Blick hat heute niemand mehr. Deswegen ist es aber umso wichtiger, sagte Arjeta, den eigenen Blick zu überprüfen. Was du siehst, kann aus einer anderen Perspektive eine andere Bedeutung haben. Ich nahm einen Schluck Kaffee. Ilja fehlte mir. Die Sehnsucht nach ihm war fast ein physischer Schmerz. Aber Arjeta schien meine Abwesenheit gar nicht zu bemerken und setzte zu einem langen Monolog an. Ich versuchte, ihr zuzuhören, weil ich hoffte, so weniger an Ilja denken zu müssen. Aber ihre Sätze zogen einfach an mir vorüber. Merkwürdigerweise habe ich mir aber doch einen guten Teil davon gemerkt. Was ist das, was wir die Summe unseres Lebens nennen? Das hatte Arjeta mich direkt gefragt. Ich zuckte mit den Schultern und trank apathisch meinen Kaffee. Ist es jenes unsichere innere Terrain, das uns scheinbare, immer aber vorübergehende Gewissheiten schenkt, um uns als jemand mit einer Biographie denken zu können? Ich weiß es nicht, Arjeta. Ich kann mir denken, dass du mich mit meinen eigenen Sätzen überführen willst. Du willst bestimmt sagen, dass die größte Erfindung im Leben eines jeden Menschen die Erfindung seiner kontinuierlichen Biographie ist. Nicht wahr? Sie lachte, aber wie immer bei Arjeta hieß das nicht, dass sie ihre ernsthaften Gedanken zur Seite geschoben hatte.

    Als ich mich von ihr verabschiedete und nach Hause ging, wirkten ihre Worte in mir nach. Was genau sah ich nur in Ilja, fragte ich mich dann auf meinem Balkon. Alles, was ich bisher für gesichert in meinem Leben gehalten hatte, war überhaupt nicht sicher gewesen. War am Ende das Zerbrechliche das Beständige? Ich wusste es nicht. Aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher