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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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in den Adern gefrieren, aber ich wollte mir wünschen, dass es auch andere Wege gab, die Schönheit des menschlichen Körpers zu erkennen. Anfangs hielt ich das, was Arjeta sagte, für Wahrheit, für die Wahrheit an sich. Aber wer, fragte ich mich doch, wer kann schon mit dieser Form von Gegenwärtigkeit auf seinen Körper schauen, wer kann derart dankbar sein und immer im Zustand der Demut leben, immer denken, dass der Krieg ihn verschont und andere vernichtet hat.

    Später, als Ilja den Zweifel und die Dunkelheit in mein Leben brachte, wusste ich, dass jede Wahrheit nur eine Orientierung ist, so etwas Ähnliches wie eine Formel aus der Physik, nichts weiter also als eine Möglichkeit unter vielen, die eigenen Perspektiven auszuweiten. Der Plural ist schwer zu ertragen, und ich weiß, dass ich Arjeta erst wirklich liebte, als ich von ihrer Schwäche wusste, als ich sie auch weinen sah, wegen der Geschwisterfüße, wegen nichts, wegen Liebeskummer, Sehnsucht und aus Scheu vor anderen Menschen. Da erst wusste ich, wie gefährlich so ein Plural für ein Menschenleben ist, das von der Abwesenheit der Tränen abhing. Arjetas Singular ist an sich ein großer Plural, sie ist eines jener typischen jugoslawischen Kinder, die nach dem Krieg wie kleine Vogelkinder in der Heimatlosigkeit der Luft fliegen lernten. Mit einer kroatischen Mutter und einem kosovarisch-serbischen Vater gehörte sie zu den Menschen, die beim Ausklang Jugoslawiens allein wegen dieser Mischung keine feste Adresse mehr hatten. Der alte Plural hatte ausgedient, jetzt galt der neue Pass mehr als jedes alte Wir. Es war alles verdächtig, was in der Kriegs- und Nachkriegszeit nach Mehrzahl und Vielvölkerstaat aussah. Klarheiten wurden gefordert, ordentlich durchkämmte Biographien mussten her; ein unverdächtiger Singular, der tat aber nur unbegabten Dichtern nicht weh, die sich ans Werk machten, Palindrome im Auftrag des Staates zu schreiben, als Geschenk an die neuen Herrschenden.
    Arjeta sagte, Poesie, das sei in solchen Umbruchszeiten manchmal wie verschimmeltes Brot. Du musst schauen, dass du dich nicht an ihr vergiftest.

    Wie anfällig unsere Landsleute für Reime waren, das begriffen wir erst viele Jahre später, da sie noch immer auf Anweisungen warteten, darauf, dass man ihnen sagte, wie das weitergeht, was sie ihr Leben nannten.
    Arjetas schwarzen Humor konnte ich nach unserem Gespräch über Palindrome besser verstehen. Ich wollte sie von nichts überzeugen. Wahrheit war für sie ohnehin etwas sehr mehrschichtig Gefährliches. Also habe ich Arjeta so gelassen wie sie ist. Das kann ich am besten, wenn man mich fragt, was mein größtes Talent ist, dann sage ich, dass ich alle am besten so lassen kann wie sie von sich aus sind. Das verdankt sich nicht unbedingt einem Talent. Ich kann das am besten, weil ich vor den anderen am besten verschwinden kann. In Gedanken verschwinde ich zuerst und danach auch im Leben. So schnell wie ich kann keiner einen Koffer packen. Einsame haben viele Kleider und kennen sich mit allen Koffermarken aus. So schnell wie ich ist niemand auf der anderen Seite der Grenze, ganz egal, wo diese gerade liegt und wie das Land heißt, das auf der anderen Seite ist, und wer auf der anderen Seite der Grenze steht.
    Wenn ich mit Arjeta über den Krieg reden wollte, nickte sie meine Fragerei nur ab, so, als habe sie mir eigentlich schon alles erzählt und wolle lieber Apfelkuchen mit mir backen. Kauf doch mal richtig gute Äpfel, sagte sie dann, und ich wusste, gute Äpfel waren wie gute Stille für Arjeta. Sie war es überdrüssig, immer wieder alles erklären zu müssen; die Wurzeln; die Herkunft; die von einstigen Nachbarn zerschossene Bibliothek. Ich schwieg dann, schwieg und wartete, bis sie etwas freiwillig erzählte. Aber die Äpfel kaufte ich doch, und der Kuchen wurde immer gut, ich glaube, weil wir ihn leise in den Ofen schoben, leise aßen, so dass man das Schnurren einer Katze hätte hören können. Vorzeitigkeit, Vorvergangenheit, in der Stille beim Apfelkuchenessen waren wir alles auf einmal.

    Bei Ilja fiel es mir schwerer, ihn in seiner Wahrheit anzunehmen. Ich litt an seiner Wahrheit, war ein Teil dieser Wahrheit, die wiederum ein Teil von einem Geheimnis war, das ich nicht kannte und in das mich Ilja gerade deshalb mit der Beharrlichkeit eines Magiers Stunde um Stunde tiefer hineinzog. Es schien, als müsste alles, was ich aus meiner Geschichte nicht kannte, so lange wiederholt werden, bis es sichtbar für mich
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