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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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Kinder, als schaute ich mir die Stoffe im Hinblick auf ihre Langlebigkeit an. Flüchtigkeit des Glücks, das wäre ein anderer Name dafür. Bestimmt ist es Einbildung, diese Geschichte als meine Geschichte auszugeben, an diese Form von Stofflichkeit zu glauben, doch wer macht das heute noch?
    Die Fragen sind Tore zu meinen Versuchen, meiner eigenen und der auswärtigen, überprüfbaren Geschichte gerecht zu werden. Das kann ich nur mit Zergliederungen, im Innenbereich der Bilder. Ich muss den Bildbereich betreten, egal wie, die Bilder öffnen wie Fenster. Auf der Bildfensterbank sitzen und an Ilja denken, ohne aus dem Bildbereich herauszufallen, ohne mir die Knie aufzuschürfen, wie ich das immer tue, wenn ich nicht weiterweiß und die Wirklichkeit draußen vor der Tür vergesse. Im Erzählen, noch während die Knie wehtun, gleich schon beim Verarzten der Wunden, da darf ich nicht ausblenden, dass alles Einbildung ist, ich muss mir dabei das Wichtigste einbilden, das mich zum Erzählen drängt – dass zumindest ein Teil meines Namens und ein Funken dessen, was ich meine Person nenne, durch das Erzählen transparent gemacht und also gerettet werden kann.

    Der Beruf der Physikerin machte mich nicht glücklich. Doch als ich ihn aufgab, wusste ich nicht, dass ich eines Tages schreiben werde. Ich wusste, dass die Relativität der Formeln für alles gut war, nur sattmachen konnte sie mich bei weitem nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob mein neuer Beruf, ob die Buchstaben meinen Hunger stillen können und woher der Hunger rührt, der so tief in mir wohnt, aber ich habe keine andere Wahl, als mich auf diese Weise meinem Hunger zu stellen.
    Der Hunger hat wie alles auf der Welt eine Sprache. Auf der einen Seite des Alphabets steht mein Vater, auf der anderen Ilja. Beide haben mir etwas über das Leben beigebracht und beide haben mir auf eine jeweils andere Weise gezeigt, wie man stirbt ohne zu sterben. So leicht entkommt man dem Leben nicht. Sterben ist schwer. Dass sie mir gerade das zeigen wollten, bezweifle ich, sie hatten andere oder überhaupt keine Pläne. Doch was wissen wir Menschen schon voneinander, von nahen und fernen Verwandten, Freunden und Fremden, von all diesen Brüdern und Schwestern im Vorübergehen? Manchmal können wir nur mit Hilfe eines anderen Menschen über die bösen Lücken des Lebens wie über einen frisch vereisten See gehen. Ein Stein, eine Blume, ein Baum können ablenken, den Blick ins Offene wenden, aber an die Lücke im eigenen Inneren kommt man ohne einen Menschen nicht heran. Manchmal erwirkt die Lückenöffnung ein Lachgrübchen, manchmal eine Falte, eine hässliche Brust, manchmal einen Mundwinkel, manchmal eine Berührung mit der flachen Hand. Keine Geschichte ist ohne Lücke. Die Lücke ist oft das Geheimnis. Wir leben um das Geheimnis herum, zergliedern es, machen Bilder aus ihm, Metaphern, Umwege, Falten und Krankheiten. Aber das Geheimnis bleibt. Es lässt sich nicht für immer zergliedern. Nachts, wenn wir schlafen und unseren Träumen ausgeliefert sind wie kleine Kinder der Güte ihrer Eltern, da macht das Geheimnis sich auf die Reise zu uns. Es packt seine Koffer aus, die doppelten Böden werden musikalisch, plaudern das Innere der Verstecke aus. Die Lüge wird sichtbar, diese alte Hexenfreundin. Die Hexe ist fleißig im Erschaffen neuer Gesichter, du drehst ihr den Rücken zu und sie vervielfältigt sich hundertfach, setzt aber ihren hundert Gesichtern fremde Münder auf, du bist ratlos. Du erkennst erst nicht, wer sie ist, wer sie in ihrer verdorbenen Vielfalt zu sein vorgibt. Du bist einsam und musst wie jeder andere auch genau nachprüfen, ob nicht jede Erzählung wie die bunte Welt der Hexenbühnen auf einer Lüge erbaut ist. Diese Lückenlüge zu finden, das kann einen das Leben und die Sprache kosten, wenn es auf einer solchen gründet. Und das eine ist dem anderen zum Schutz anheimgegeben, bedingungslos, wie Arjeta neulich sagte.

    Es ist an der Zeit, mit dem alten Namen Schluss zu machen und aufzuhören, an einen Namen wie an Gott zu glauben. Wer so etwas will, der wird von Anfang an seine eigene Fremdheit verpassen und dem blinden Fleck zum Opfer fallen. Als ich fünf Jahre alt geworden bin, wusste ich, dass es mehr als alles geben kann. Der Grund dafür war einfach, ich habe verstanden, dass es weniger als nichts gibt. Ich hatte zwar meinen Vater verloren, aber es war ein Vater, der Libellen getötet hatte, nur Libellen, wie es hieß, aber diese strategisch, eine nach
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