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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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Französischen verlassen, also auch verraten hat. Ilja selbst ist nicht in der Lage, sich von seinen Wurzeln abzuschneiden. Er gibt es auch zu, er sagt, ich weiß, dass ich kein Baum bin, aber dennoch wachsen meine Wurzeln in Sarajevo weiter, wo auch immer ich hingehe, wachsen sie dort weiter, wo ich zur Welt gekommen bin. Es ist ihm klar, dass er das Goldene Zeitalter – so nennt er seine verlorene Kindheit – nicht mehr zurückholen kann, dass es für immer vorbei ist. Aber er spricht dieses große Wort ganz beiläufig aus, so, wie man das Wort Fußballplatz oder Schornstein ausspricht. Er sagt das Wort, um sich hinter ihm zu verstecken. Das ist Iljas Art von Nostalgie, so hält er es mit Ländern und mit Menschen. Er hasst Abschiede und versucht alles, um den Abschieden eine Falle zu stellen. Manchmal hilft ihm Zorn dabei, manchmal Abscheu vor Leuten, die in anderen, in zweiten, in dritten Sprachen schreiben.
    Ich mag Kunderas Art zu denken. Er ist verrückt wie Vladimir Nabokov, anders verrückt, aber eben auch verrückt. Alle diese Verrückten, die Bücher schreiben oder sie auch nur lesen, haben etwas von Dorfkindern an sich. Es ist egal, ob sie das in der ersten oder in der zweiten Muttersprache schreiben, lesen, leben. Ich mag Leute, die sich fremd in fremden Sprachen werden, bis die fremden Sprachen ihre Sprachen werden, bis alles fremd wird im Detail, weil doch das Menschsein an sich, en gros und en détail, das Fremde ist. Ob einer Schriftsteller oder Gärtner ist, spielt gar keine Rolle. Der Regen fällt auf uns alle gleich weich oder gleich hart. Oder etwa nicht?

    Im Bus ist es stickig. Wenn wir an einer erleuchteten Tankstelle vorbeifahren, glitzern auf meinem Pullover die schönen schwarzen Perlen oberhalb der Brustpartie manchmal auf. Nachdem ich in Wim Wenders’ Film Paris, Texas Nastassja Kinski in einem roten Angorapullover gesehen hatte, sagte ich anderntags zu Arjeta, so ein Rot, das brauche ich auch. Danach haben wir halb Paris auf den Kopf gestellt. Wir waren in den teuersten Boutiquen, um für mich so etwas wie aus dem Wenders-Film zu finden. Ich war sogar entschlossen, mir etwas von Yves Saint Laurent zu kaufen und mich finanziell zu ruinieren. Aber schließlich habe ich den bestickten Pullover in einem heruntergekommenen kleinen Secondhand-Laden oben in Montmartre bei einer nach Schnaps riechenden Blondine gefunden. Danach führte ich meinem Mittagessenfreund Christophe sofort den Pullover in einem kleinen vegetarischen Restaurant in der rue de Trois frères vor, in der er eine Wohnung zur Miete bezogen hatte.

    Weder Ilja noch ich wussten damals, dass wir zur gleichen Zeit in Paris lebten. Er wohnte im zehnten, ich im elften Arrondissement. Er ging oft in der rue Saint Maur spazieren, manchmal auch mit Freunden im Charbon tanzen. Das Charbon war damals eine Diskothek, im quartier branché . Es war Mode, in der rue Saint Maur und in der rue Oberkampf auszugehen. Das einzige Zimmer, das ich in der ganzen Stadt zu einem erschwinglichen Preis hatte auftreiben können, lag genau gegenüber vom Charbon. Aber zum Glück im Hinterhof, so dass ich hin und wieder nachts auch durchschlafen konnte. Offenbar kam die ganze Pariser Jugend hierher zum Tanzen, und der Krach, den sie an den Wochenenden allenthalben produzierte, führte dazu, dass ich die Nächte an meiner Doktorarbeit durchschrieb.

    Mein Freund Christophe war damals Romanistikprofessor in Valenciennes. Ich hatte ihn in dem kleinen Restaurant bei einem Mittagessen kennen gelernt. Seit diesem Tag nannten wir einander Mittagessenfreunde. Schon bei diesem ersten Treffen verstrickten wir uns in heißblütige Diskussionen und spekulierten wild gestikulierend über die Perversionen von Georges Bataille. Wir versuchten herauszufinden, welche Anteile seiner Person sich in seinen literarischen Figuren spiegelten, und überhitzten uns in unserer Begeisterung für diesen merkwürdigen Mann, dessen Charakter Christophe wie eine Bricolage aus Mystik, Wirtschaft, Erotismus und Psychoanalyse vorkam. Christophe hatte Sinn für poetische Widersprüche, setzte aber auch beim Paradox auf Genauigkeit. Er hatte eine deutsche Mutter. An den Wochenenden übersetzte er aus Zeitvertreib französische Schriftsteller ins Deutsche, darunter auch einen merkwürdigen Ethnologen, der mit Georges Bataille befreundet war und der im betrunkenen Zustand lauthals in einem warmen Pariser Frühling über die Dächer des Quartier Latin hinweg À bas la France geschrien haben
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