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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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soll – Nieder mit Frankreich .
    Christophe war ein auffällig großer Mann, ein riesengroßer, wenn man genau sein will, und eines Tages hatte er eine sehr schmale Freundin zu einem unserer Mittagessen mitgebracht. Sie hieß Rosalie und war fünfunddreißig Jahre jünger als er. Rosalie hatte glühende braune Augen, denen nichts entging. Danach bin ich nicht mehr mit Christophe essen gegangen. Rosalie entpuppte sich als die eifersüchtigste Person, die ich je getroffen hatte. Ich aß wieder allein zu Mittag, ohne meinen Mittagessenfreund mochte ich nicht mehr in das kleine vegetarische Restaurant in Montmartre gehen und trieb mich nur noch im elften Arrondissement herum.
    In meiner ersten Pariser Silvesternacht betrank ich mich mit sauer schmeckendem Sanscerre und fuhr mit dem Vorstadtzug Richtung Versailles. Im Wald hinter Meudon schrie ich alle paar Schritte völlig unerschrocken den Satz des Ethnologen vor mich hin, bis mir ein Pilzsammler entgegenkam, der mich so scheu und weltfremd ansah, dass ich sofort still wurde. Verrückt war er bestimmt, denn wer ist normal und sammelt schon Pilze in einer Silvesternacht, während die Hauptstadt in festlichem Licht erstrahlt? So aber hatte mein Leben damals ausgesehen, und wenn Ilja mir vor oder nach meiner Zugfahrt nach Versailles begegnet wäre, davon ist Arjeta überzeugt, hätte weder er mich noch ich ihn erkannt. Arjeta sagt, das sei alles mathematisch genau überprüfbar. In dieser Zeit sei mein Blick nun einmal nur auf vorübergehende Pilzsammler ausgerichtet gewesen.

    Im Bus nach Amsterdam versuche ich, mich an die damalige Zeit zu erinnern. An die menschenlosen Sonntage, daran, dass es immer nur aus der Rückschau schön ist, sich nichts anderes als einen Kaffee leisten zu können und ihn dann wie etwas selten Gutes zu schmecken, zu riechen, sich im Winter an ihm die Hände zu wärmen, wie das alle tun, die irgendwo in einem Pariser Café stranden und von den Kellnerinnen mit Kosenamen begrüßt werden. Im Erinnerungstunnel sehe ich Paris im Herbst vor mir. Im Frühling. Im Sommer. Denke an die kleinen Straßen in meinem Viertel. Ich male mir aus, wie es gewesen wäre, Ilja an irgendeiner Ecke im elften Arrondissement zu treffen. Und ich frage mich, wie es sich angefühlt hätte, wenn wir in der Métro einander zufällig angerempelt, einander angesehen hätten, verschwitzt und vielleicht auch atemlos nach einem langen Tag draußen in der Stadt, wenn wir uns ein bisschen dafür geschämt hätten, dass wir nicht mehr ganz frisch rochen, wie wir noch am Morgen frisch gerochen hatten. Jetzt versuche ich mir vorzustellen, wie es sich angefühlt hätte, vor Iljas inspizierenden Augen meinen mintgrünen Mantel enger um mich zu ziehen, diesen stolzen Mann lange und beharrlich anzusehen, bis sein Stolz sich zu verwandeln begann, eine Zärtlichkeit den Wangen entglitt, die er sonst lange im Verborgenen für sich behalten hätte.
    Vielleicht hätte ich damals schon verstanden, dass ich ihn immer nur mit einem Koffer in der Hand sehen und sein Stolz sich nie in Schwäche verwandeln würde, er aber gerade deshalb mein Schicksal war, Mathematik, Bestimmung, das Eintreten irgendeiner komplizierten Rechnung, die für uns gemacht worden war, am besten schon in den Bäuchen unserer Mütter.
    Jede Berührung, jeder Rockkauf, jedes neu gekaufte Paar Schuhe wäre dann in einem anderen Rahmen zu betrachten gewesen. Dann, so stelle ich es mir Monate nach der Busfahrt vor, wäre das Schicksal nicht zum Tragen gekommen. Dann wären wir nur zwei Verliebte ohne Schicksal gewesen, hätten zusammen gefrühstückt und getanzt, die Nächte über Zigaretten geraucht, aus Liebe, nicht aus Langeweile. Damals war Ilja nicht verheiratet. Er war einfach nur Ilja, ein grünäugiger Mann unter vielen grünäugigen Männern, ohne eine feste Adresse, mit allen Zug- und Flugverbindungen in seinem Kopf, die in seinem Denken, so stellte ich es mir vor, neben dem Erbe von Joseph Brodsky, Joseph Conrad und Danilo Kiš wohnten. Schneisen aus Menschen, Nachbarschaften. Boten in Iljas Kopf. Ein Gestade aus Listen, Erinnerungen und Angeboten für neue Schneisen, neue Nachbarschaften, neue Boten in einem neuen Kopf.

    Wenn Ilja schon in Paris mein Ilja geworden wäre, dann wäre auch alles andere anders geworden. Wie alles aus der Rückschau Betrachtete, in der Zeit sorgfältig Sortierte, kommt es mir wie Fatum vor, dass Ilja in meinem Leben erst später aufgetaucht ist. Vielleicht sind ehemalige
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