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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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wurde. Iljas Geheimnis verwandelte sich in eine Landschaft, zu der es mich magnetisch hinzog. Ich hätte gar nicht sagen können, was ich mit dem Wort Landschaft meinte, aber ich ließ mich ein auf diese Natur, die fremd für mich war und die mich verschlingen sollte, so, wie es nun einmal der Hungerplan der Natur vorsah. Es gab nie den Garten Eden, es gab immer nur die Natur. Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Verbannung ins eigene Leben.

    Arjeta konnte ich deshalb so gut verstehen, weil sie mich niemals mit sich und ihrer Welt vermischte. Sie erzählte mir nur von ihr. Und ich konnte alles fühlen, was sie sagte, denn Arjeta verlangte nie, dass ich ein Teil von ihrer Welt werde. Sie brauchte mich, damit ich ihr zuhörte, mit allem, was ich als Mensch ohne sie war und ohne sie sein werde. Denke ich an unsere vielen Spaziergänge in Paris und Berlin zurück, an unsere Nachmittage bei schwarzem Kaffee und Apfelkuchen, wird mir klar, dass es Arjeta mehr als mir bedeutete, eine Sprachverbündete zu haben, einen naiven Zeugen, jemanden, der die gleiche Sprache wie sie als Kind gesprochen hatte. Das verschaffte ihr Koordinaten in ihrer Erinnerung, spielte ihr eine Zeitart zu, in der ihr eigenes inneres Vermögen und ihre unschuldige Verwunderung handgleich zueinanderfanden. Sonst übernahm Arjeta immer die Rolle der Zuhörerin für die anderen. Und ich kenne auch niemand sonst, der wie sie mit jener zärtlichen Geduld und Anteilnahme zuhören konnte, die sich jeder von uns erträumt. Arjeta und ich saßen an den Nachmittagen in den Cafés unseres Viertels herum, lasen Zeitung, Bücher, Gedichte, aßen zur Abwechslung Erdbeer- oder Rhabarberkuchen und tranken Cappuccino im Café Gottlob. Arjeta sagte dann Sätze wie, Liebe, das sei doch immer auch eine Art Tod. Ich nickte und sagte, ja, vielleicht, aber vielleicht doch auch nur die Fortsetzung der Unschuld. Sie rauchte, und ich sah mich im Café um, wollte sehen, wer da sonst noch saß und ob man uns zuhörte, uns vielleicht für verrückt hielt, weil wir so über den Tod und über die Liebe sprachen. Lautstark erzählte eine Frau ihrer still dasitzenden Freundin von einem Ferienaufenthalt auf Capri, keine der beiden kümmerte sich um uns.
    Ich verstand Arjeta auf Anhieb, warum, weiß ich selbst nicht. Sie ist der einzige Mensch, mit dem ich über die Liebe und über den Tod auf diese Weise und in dieser Lautstärke reden kann. Wir sprachen darüber wie über einen Obstkauf, wie man über das Kehren einer Straße spricht oder etwa über Pünktchengeschirr, das, davon war Arjeta überzeugt, aus unerfindlichen Gründen glücklich macht. Auch das glaubte ich ihr, denn sie hatte in der Zeit unserer langen Freundschaft nur diese eine Überzeugung entwickelt. Es tat gut, sie als Verteidigerin des harmlosen Glücks am harmlosen Beispiel des ebenso harmlosen Pünktchengeschirrs zu wissen. Alle anderen Menschen, die ich im Laufe meines Lebens getroffen habe, trieben Handel mit Überzeugungen ganz anderer Art.

    Ich pflichtete Arjeta bei, natürlich hinterlässt jeder Tod ein Rätsel, sagte ich, immer wieder und aufs Neue, obwohl wir uns allmählich daran gewöhnt haben müssten, dass wir leben, um zu sterben, sagte ich. Arjeta mochte es, wenn auch ich so mit ihr sprach. Das sei der Unterschied zwischen uns und den anderen. Mit den anderen meinte sie die Franzosen und später die Deutschen. Ich war nicht einverstanden mit ihrer mentalen Grenzziehung, wollte nicht, dass sie so von den anderen sprach, schließlich gehörte ich zu ihnen, hatte von beiden das Nachdenken gelernt, das Denken in Sprache und das Fühlen in Wörtern. In unserer ersten Muttersprache, die sich in der Zwischenzeit als ein bemerkenswert hybrides Wesen und als ein erstaunlich formungsfähiges Erpressungsmittel in der Kriegsführung dreier Staatsmänner erwiesen hatte, kannte ich das Denken in Sprache nicht. Ich sprach in dieser ersten Sprache einfach drauflos, und jedes Sprechen war naiv, vorpreschend, eine Art Verteidigung meiner selbst. Der Tod, nun ja, sagte ich, daran wird sich wohl nie ein Mensch wirklich gewöhnen können, daran hindern uns unsere Geschichten.

    Wir schwiegen und tranken Kaffee, diesen bitteren schwarzen Kaffee, den Arjeta uns zubereitete, wenn wir uns bei ihr trafen. Diese Schwärze schien am tiefsten an unsere Erinnerung heranzureichen, ich bekam schon Herzklopfen vom bloßen Anblick des Kaffees.
    Wenn das Leben uns nicht umbringt, sagte ich zu Arjeta, dann wird es eines Tages dein
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