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Das Geburtstagsgeschenk

Das Geburtstagsgeschenk

Titel: Das Geburtstagsgeschenk
Autoren: Barbara Vine
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dem Boden. Ich ging, verzweifelt gegen meine aufsteigende Übelkeit ankämpfend, ganz langsam auf ihn zu. Das Blut floss weiter, demnach konnte er nicht tot sein. Ich griff nach seiner Hand, sie war warm, versuchte seinen Puls zu fühlen, konnte aber die Stelle am Handgelenk nicht finden. Noch immer mit seiner Hand in der meinen wandte ich mich ab, ich konnte nicht mit ansehen, wie das Blut quoll und tropfte, dann schloss ich beide Hände um seine, setzte mich auf den Fußboden, hörte mich aufschluchzen – und weinte wie eins meiner Kinder, wenn ihnen etwas Schlimmes zugestoßen ist.
    Ich war hilflos, aber wie hätte ich auch helfen sollen?
    Warum der Rettungswagen zuerst kam, weiß ich nicht, vielleicht hatte Trenant den auch verständigt, jedenfalls war ärztliche Hilfe noch vor der Polizei da. Sie trugen Ivor, mit einer Decke verhüllt, auf einer Bahre hinaus, die geifernden Reporter waren in Aufruhr, einer rief mir zu, er habe den Schuss gehört. Ich stieg zu Ivor in den Rettungswagen, und sie gaben ihm noch auf dem Weg zum Krankenhaus Blutkonserven. Von dort aus rief ich sofort Iris an und bat sie zu kommen, da vielleicht die nächsten Angehörigen benötigt würden. Dorothy Sayers’ Dr. Penberthy hatte sich erfolgreicher das Leben genommen, aber er hatte eine Pistole gehabt, während Ivor es mit einer Flinte versucht hatte, einer bekanntermaßen unzuverlässigen Waffe für einen Selbstmord. Ich benutzte das Wort zum ersten Mal, und im gleichen Augenblick dachte ich bei mir, dass sein Testament, das er auf den Schreibtisch gelegt hatte, dann wohl seine Version eines Abschiedsbriefes war.
    Er war bewusstlos und »in kritischem Zustand«, wie es heißt. Wir durften ein paar Minuten zu ihm, nachdem sie ihn gesäubert und mit Blut seiner eigenen Blutgruppe versorgt hatten. Ob er durchkommen würde, konnten sie nicht sagen. Als es für uns nichts mehr zu tun gab, fuhren wir nach Hause, wo die Babysitterin uns schon voller Ungeduld erwartete, weil sie mit ihrem Freund verabredet war. Als Nächstes mussten Louisa und Juliet verständigt werden oder aber nur Juliet, die es dann Louisa würde beibringen müssen.
    »Von Rechts wegen müsste ich hinfahren und es Mutter selbst sagen«, meinte Iris.
    Auch wenn sie in der nächsten Stunde einen Zug bekäme, sagte ich, würde sie nicht vor Mitternacht dort sein, sie müssten es jetzt erfahren, sofort.
    »Ich mache es«, entschied Iris. »Nicht gern, aber es ist die einzige Möglichkeit.«
    Doch da rief schon Juliet an, die sich entsetzliche Sorgen machte. Sie hatte versucht, Ivor anzurufen, als sie die Abendnachrichten DER BBC gesehen hatte. Seit 1989 werden die Unterhaussitzungen live im Fernsehen übertragen, und als sie Ivor am Rednerpult hatte stehen sehen und seine Antwort auf Saddlers Frage gehört hatte, war sie wie betäubt gewesen. Sie habe es nicht glauben wollen, sagte sie, es sei wie ein »böser Traum« gewesen, in dem unbescholtene Bürger unvermittelt in den Dreck gezogen werden. All das sprudelte aus ihr heraus, ehe wir zu Wort kommen konnten, und Iris weinte so sehr, dass ich ihr den Hörer aus der Hand nahm.
    »Er lebt«, sagte ich. »Daran halte dich. Du musst es seiner Mutter beibringen.«
    »Wo hat er es getan?«
    Ich musste an den Typ in Macbeth denken, der »Ha! Von wem?« fragt, als er erfährt, dass sein Vater ermordet worden ist. Für mich war das in dieser Situation immer unerheblich gewesen, aber als Juliet die Frage nach dem Wo stellte, konnte ich das nachvollziehen. So schrecklich, so niederschmetternd es war – sie wollte sich Ivor bei seiner Tat vorstellen können. Ich habe später erfahren, was in dem Testament stand. Mit Ausnahme von Ramburgh House, in dem seine Mutter lebenslanges Wohnrecht haben sollte, hatte er alles, was er besaß, Juliet zugedacht.
    Seine Genesung war in vieler Hinsicht mit der von Dermot vergleichbar. Wie Dermot war Ivor lange Zeit ohne Bewusstsein, allerdings wünschte ihm, soweit ich weiß, niemand den Tod, so wie Ivor ihn Dermot gewünscht hatte. Seine Mutter saß viele Stunden an seinem Bett und hielt seine Hand. Juliet kam jeden Tag, Iris und ich kaum weniger häufig. Welcher Art genau die Verletzung war, die er sich zugefügt hatte, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass dabei Gehirnschäden entstanden waren. So ähnlich wie bei einem schweren Schlaganfall, sagte der behandelnde Arzt, aber er setzte hinzu: »Es hätte viel schlimmer kommen können.«
    Auch der Wirbel in den Medien hätte ohne Ivors
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