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Das Geburtstagsgeschenk

Das Geburtstagsgeschenk

Titel: Das Geburtstagsgeschenk
Autoren: Barbara Vine
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Abgeordneten, hieß er stets »der in Ungnade gefallene Parlamentarier Ivor Tesham«, genau wie er gefürchtet hatte. Ich glaube kaum, dass er diese Artikel gelesen hat. Nachdem Zeitungen jahrelang tägliche Pflichtlektüre für ihn gewesen waren, warf er nun kaum mehr einen Blick auf die Schlagzeilen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß – das war jetzt sein Lebensmotto.
    Woher aber wusste David Menhellion, dass Ivor Hebes Geliebter gewesen war? Wir haben es nie erfahren, aber schon im ersten Teil des Tagebuchs findet sich ein Hinweis. Fünf Jahre nachdem ich es gelesen hatte, sah ich zufällig die Besprechung einer Sendung, die am Vorabend im Fernsehen gelaufen war. Man hatte Menhellion, inzwischen Leitartikler einer seriösen Sonntagszeitung, dort als Gastrezensenten eingeladen, und in seinem Artikel sprach er von seiner Schwäche für Kostümserien. Kleine private Bemerkungen waren schon damals in, so dass es nicht ungewöhnlich war, dass ein Kolumnist auch seine Frau und ihre Vorliebe für Dokudramen ins Spiel brachte. Ungewöhnlich war ihr damals wie heute sehr seltener Vorname. Jane erwähnt eine Grania, die mit Hebe befreundet gewesen sei und nach deren Tod bei Gerry ausgeholfen habe. Der Gedanke ist wohl nicht zu weit hergeholt, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt und dass jene Grania, die Jane in der Irving Road kennenlernte, möglicherweise wenig später Menhellions Freundin wurde und bereitwillig an ihn weitergab, was sie im Hinblick auf die Identität von Hebes Liebhaber gefolgert oder was Hebe selbst ihr erzählt hatte.
     
    Es dauerte lange, bis Ivor so weit wiederhergestellt war, dass er nach Hause konnte. An einem Septembertag, als Iris und ich ihn im Krankenhaus besuchten, hatte man gerade den Verband abgenommen, der seine Kopfwunde verdeckte, solange er im Koma lag. Es war ein schlimmer Anblick, vor dem man unwillkürlich zurückwich – man konnte nur hoffen, dass er es nicht bemerkte. Inzwischen hat er mehrere Hauttransplantationen hinter sich, trotzdem ist eine tiefe Kerbe von der Schläfe bis zum Scheitel geblieben, und dort wachsen keine Haare. Sobald er wieder in der Glanvill Street war, beantragte er eine Sondergenehmigung und heiratete Juliet. Der Bräutigam saß bei der Trauung in tadellosem Anzug und mit einer Wollmütze über der Narbe im Sessel.
    Die meisten Zeitungen brachten ein Archivfoto von Ivor und Juliet aus der Zeit, als er gerade Staatsminister geworden war. »In Ungnade gefallener Parlamentarier heiratet« lautete – vielfach abgewandelt – die entsprechende Bildunterschrift, aber da ihm keine Zeitung mehr ins Haus kam, traf Ivor das nicht. Juliet hatte sich diese Ehe gewünscht und hatte sie bekommen. War sie nun glücklich? Jedenfalls war sie schöner denn je, und im Frühjahr sagte sie uns, dass sie schwanger sei. Sie betete Ivor an. Es sei der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen, als sie ihm eröffnen konnte, dass er Vater werden würde, sagte sie, Ivor habe vor Freude geweint. Wirklich? Opfer von Schlaganfällen oder ähnlichen Hirnschäden haben bekanntlich oft nah am Wasser gebaut. Ich kann nur sagen, dass ich in meiner langen Bekanntschaft mit Ivor noch nie Tränen in seinen Augen gesehen habe.
    War es der gegenwärtige Ivor, den Juliet liebte, oder die Erinnerung an den Mann, der er einmal gewesen war? Fest steht, dass er, wenn auch vielleicht nicht immer gleich zu Tränen gerührt, ein anderer Mensch geworden war. Ob diese Veränderung eine Folge der Hirnschädigung, eines Traumas oder der Belastungen in den Wochen vor seinem Selbstmordversuch war, kann ich nicht sagen. Die Bedenkenlosigkeit war dahin, das Herausfordernde und Gefühllose, das so typisch für ihn gewesen waren, der Gleichmut, mit dem er sich Dermots Tod gewünscht und sich jeder Trauer um Hebe verweigert hatte. Er hatte clever agiert, aber auch viele Dummheiten gemacht, um seine Haut zu retten, und als das alles wegfiel, wurde er ein klein wenig langweilig. Die Politik war sein Leben gewesen, und jetzt gab er »all das«, wie er es ausdrückte, offenbar ohne Bedauern auf. Seitensprünge oder auch nur der Gedanke daran waren kein Thema mehr. Und unter »all dem« verstand er auch andere Annehmlichkeiten.
    »Seit ich wieder bei Bewusstsein bin, habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken«, sagte er zu mir. »Es macht einfach keinen Spaß mehr.«
    »Manch einer würde dich beneiden.«
    »Meinst du?«
    Er sah mich lange unverwandt an, sagte aber nichts. Ich bereute meine
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