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Das fremde Haus

Das fremde Haus

Titel: Das fremde Haus
Autoren: Sophie Hannah
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Treppe hinunter und ins Wohnzimmer. Kit legt das Messer hin, tritt zu einem Schrank und öffnet ihn. Er zieht ein Foto heraus und wirft es mir zu. Es landet auf Jackie, mit der Bildseite nach oben. Es landet direkt auf Jackie. Der toten Jackie. Ein Mann, eine Frau, ein Junge und ein kleines Mädchen. Sie sitzen auf einer Brücke und essen Eis. Lachen.
    Ich kenne das Gesicht der Frau. Das Gesicht von Elise Gilpatrick. Wie ist das möglich? Das ergibt keinen Sinn.
    Aber was ergibt schon Sinn? Jackies Leiche liegt da, wie Abfall – macht das Sinn?
    Kit kommt langsam auf mich zu, mit gezücktem Messer. Wo ist Simon Waterhouse? Wo ist Sam? Warum kann ich sie nicht mehr hören? Ich versuche, ihnen eine Botschaft zu senden, obwohl ich genau weiß, wie sinnlos das ist: Bitte kommt. Bitte. Ich kann nirgends hin, es gibt keine Möglichkeit für mich, Kit zu entkommen. Er ist ein Feuer, eine Flutwelle, eine Wolke toxischen Gases – er ist alles Schreckliche, das es je gegeben hat, und er kommt auf mich zu. Er schaut mich nicht mehr an. Sein Blick ist auf das Foto gerichtet, auf die Gesichter seiner Opfer. Nichts von alledem ist ihre Schuld – ich weiß das sehr wohl –, aber sie sind die Ursache für alles.
    Man wird mich wegen einer Familie namens Gilpatrick umbringen.
    Es sind vier: Mutter, Vater, Sohn und Tochter. »Elise, Donal, Riordan und Tilly«. Kit nennt mir ihre Vornamen, als hätte ich irgendein Interesse daran, auf Förmlichkeiten zu verzichten und sie alle besser kennenzulernen, obwohl ich nur eins will, schreiend weglaufen. »Riordan ist sieben«, sagt er. »Tilly fünf.«
    Halt die Klappe , würde ich am liebsten brüllen, aber ich habe viel zu große Angst, den Mund aufzumachen. Er ist wie zugenäht, als würde kein Wort ihn je wieder verlassen, nie wieder.
    Das war’s. Ich weiß jetzt, wo und wie und wann und warum ich sterben werde. Zumindest begreife ich jetzt endlich das Warum.
    Kit hat ebenso große Angst wie ich. Viel größere. Deshalb redet er unablässig, denn er weiß, wie alle, die jemals in Schrecken ausharren mussten – wenn Angst und Schweigen zusammenwirken, bilden sie ein Gemisch, das tausend Mal fürchterlicher ist als die Summe seiner Teile.
    »Die Gilpatricks«, sagt er, und Tränen laufen ihm über das Gesicht.
    Ich beobachte die Tür im Spiegel, der über dem Kamin hängt. So wirkt sie kleiner und weiter entfernt, als sie es täte, wenn ich mich umdrehen und sie direkt anblicken würde. Der Spiegel hat die Form eines mächtigen Grabsteins: drei gerade Seiten mit einem Rundbogen oben.
    »Ich habe nicht geglaubt, dass es sie wirklich gibt. Der Name klang erfunden.« Kit lacht und schluchzt erstickt auf. Alles an ihm zittert, auch seine Stimme. »Gilpatrick, so einen Namen würde man sich ausdenken, wenn man jemanden erfinden will. Mr. Gilpatrick. Wenn ich nur geglaubt hätte, dass es ihn gibt, wäre nichts von alledem passiert. Wir wären sicher gewesen. Wenn ich nur …«
    Er verstummt und weicht von der geschlossenen Tür zurück. Er hat die Schritte gehört, die auch ich höre – schnelle Schritte, ein wilder Ansturm. Sie sind hier. Endlich ist die Polizei da. Kit umfasst den Messergriff mit beiden Händen und stößt sich das Messer in die Brust. Das Letzte, was er sagt, ist: »Es tut mir leid.«

Asservaten-Nr.: CB13345/432/29IG
    Caroline Capps 24. 12. 93
    Stover Street 43
    Birmingham
    Liebe Caroline,
    es tut mir leid, wenn dieser Brief zu direkt sein sollte, aber es gibt eben Leute, die lieber geradeheraus sind als falsch. Zu denen gehörst Du offensichtlich nicht. Du hast gesagt, dass Du mir glaubst, aber jetzt habe ich von Vicki und Laura erfahren, dass das gar nicht stimmt – offenbar wolltest Du nur höflich sein, und ich tat dir leid.
    Zum Glück brauche ich dein Mitleid nicht. In meinen Augen bist du diejenige, die Mitleid nötig hätte, wenn nicht sogar eine Psychotherapie. Ich bin schon mehrmals in meinem Leben verlassen worden, und ich hatte nie irgendein Problem damit, dazu zu stehen. Und ich habe NIEMALS irgendeinem Exfreund Dutzende von Fotos von mir geschickt – warum sollte ich? Wirke ich dermaßen verrückt auf Dich?
    Wenn hier jemand verrückt ist, dann Dein Freund. Er ist nicht nur ein Lügner, sondern spinnt total. Er hat die Fotos gemacht, die Du gefunden hast – er ist besessen von mir, obwohl ich nur fünf Minuten mit ihm gesprochen habe. Warum überzeugst Du dich nicht selbst davon? Folge ihm irgendwann mal – Du wirst schnell feststellen, dass er mich
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