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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel
Autoren: Umberto Eco
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der zum Segnen bereit-stand, alles außer dem verblichenen Braun der Fotos auf den Grabsteinen. Und außer dem großen Farbfleck der vor den 750
    zwei offenen Gräbern angetretenen Formationen.
    »Junge«, sagte der Kommandant, »stell dich hier neben mich, und auf mein Kommando bläst du das Attenti. Danach, wieder auf mein Kommando, das Riposo. Ist doch ganz leicht, oder?«
    Kinderleicht. Nur hatte Jacopo noch nie ein Habt-acht und noch nie ein Rührt-euch geblasen.
    Er hielt die Trompete im angewinkelten rechten Arm, an die Rippen gedrückt, den Trichter ein wenig nach unten gerichtet, als wär’s ein Karabiner, und wartete, Kopf hoch, Bauch rein, Brust raus.
    Terzi hielt eine kleine Rede mit lauter sehr kurzen Sätzen.
    Jacopo überlegte: Beim Blasen würde er die Augen zum Himmel heben müssen, und dann würde ihn die Sonne blenden. Aber so stirbt ein Trompeter, und da man nur einmal stirbt, tut man’s lieber gleich richtig.
    Dann flüsterte der Kommandant ihm zu: »Jetzt!« Und begann laut: »Aaa...« Und Jacopo wußte nicht, wie man ein Atten-ti bläst.
    Die Tonfolge mußte sehr viel komplexer sein, aber in diesem Augenblick war er nur fähig, C-E-G-C zu blasen, und jenen rauhen Kriegsmännern schien das auch zu genügen.
    Bevor er zum abschließenden C ansetzte, holte er tief Luft, damit er den Ton lange aushallen konnte, so lange, daß ihm Zeit genug blieb —, schrieb Belbo —, die Sonne zu erreichen.
    Die Partisanen salutierten in Habachtstellung. Die Lebenden regungslos wie die Toten.
    Es bewegten sich nur die Totengräber, man hörte das Rum-peln der Särge, die in die Gräber hinuntergelassen wurden, und das Scharren der Seile, die sich am Holz rieben, als sie hinaufgezogen wurden. Aber das war nur eine schwache Bewegung, wie das Tanzen eines Lichtreflexes auf einer Kugel, das nur die reglose Ruhe der Kugel des Seins unter-streicht.
    Dann das trockene Klacken eines Präsentiert-das-Gewehr.
    Der Probst murmelte die Aspersionsformeln, während er das Weihwasser auf die Gräber sprengte, die Kommandanten traten an die Gruben und warfen jeder eine Handvoll Erde hinunter. Plötzlich ein kurzer Befehl, eine Salve krachte in 751
    die Luft, ta-ta-ta ta-pum, und tschilpend flog ein Schwarm kleiner Vögel aus den blühenden Bäumen auf. Aber auch das war nicht eigentlich Bewegung, es war eher, als präsentierte sich immer derselbe Augenblick in verschiedenen Perspektiven, und einen Augenblick immerfort zu betrachten heißt nicht, ihn zu betrachten, während die Zeit vergeht.
    Deshalb war Jacopo regungslos stehengeblieben, unbeirrt sogar von den Patronenhülsen, die ihm vor die Füße kuller-ten, und hatte auch die Trompete nicht abgesetzt, sondern hielt sie noch immer am Mund, die Finger auf den Ventilen, starr in Habachtstellung, das Instrument schräg nach oben gerichtet. Er blies noch immer.
    Sein langer Schlußton hatte keinen Augenblick ausgesetzt.
    Unhörbar für die Anwesenden kam er noch immer aus dem Trompetentrichter, wie ein leichter Atem, ein dünner Luft-strom, den Jacopo weiterhin in das Mundstück blies, die Zunge zwischen den kaum geöffneten Lippen, ohne sie gegen das Metall zu drücken. Das Instrument blieb vorgestreckt, ohne sich auf den Mund zu stützen, allein durch die Anspannung der Ellenbogen und Schultern.
    Und Jacopo fuhr fort, diesen Hauch von Ton zu blasen, da er spürte, daß er in diesem Augenblick einen Faden aus-spann, der die Sonne festhielt. Das Gestirn war stehengeblieben in seinem Lauf, fixiert in einem Mittag, der eine Ewigkeit hätte andauern können. Und alles hing von Jacopo ab, er brauchte nur abzusetzen, den Faden zu lockern, und die Sonne wäre davongesprungen wie ein Ball, und mit ihr der Tag und das Ereignis dieses Tages, diese phasenlose Aktion, diese Abfolge ohne Vorher und Nachher, die bewegungslos ablief, nur weil er die Macht hatte, es so zu wollen und so zu tun.
    Hätte er abgesetzt, um einen neuen Ton zu blasen, es hätte wie ein scharfer Riß geklungen, viel lauter als die Salven, die ihn betäubten, und die Uhren hätten wieder angefangen, tachykardisch zu ticken.
    Jacopo wünschte sich von ganzem Herzen, daß der Mann neben ihm nie das Kommando Rührt-euch geben würde. Ich könnte mich widersetzen, dachte er, und für immer so bleiben. Blas weiter, so lange du kannst.
    Ich glaube, er war in jenen Zustand der Benommenheit und des Taumels eingetreten, der einen Taucher erfaßt, 752
    wenn er versucht, nicht aufzutauchen, sondern die Trägheit, die ihn auf
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