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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel
Autoren: Umberto Eco
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den Grund sinken läßt, noch länger hinauszuzie-hen. Denn in seinem Bemühen um Ausdruck dessen, was er empfand, läßt Belbo hier seine Sätze im Leeren abbrechen, sich asyntaktisch verdrehen und rachitisch mit Ellipsen durchsetzen. Aber es ist klar, daß er in jenem Moment —
    nein, er sagt es nicht so, aber mir scheint, es ist ganz klar: daß er in jenem Moment Cecilia besaß.
    Ich meine, daß Jacopo Belbo damals noch nicht begriffen haben konnte — und auch nicht begriffen hatte, als er über sein unbewußtes Selbst schrieb —, daß er in jenem Augenblick ein für allemal seine chymische Hochzeit feierte — mit Cecilia, mit Lorenza, mit Sophia, mit der Erde und mit dem Himmel. Als einziger vielleicht unter den Sterblichen war er im Begriff, endlich das Große Werk zu vollenden.
    Niemand hatte ihm bisher gesagt, daß der Gral ein Kelch, aber auch ein Speer ist, und doch war seine als Kelch erhobene Trompete zugleich eine Waffe, ein Instrument der zarte-sten Herrschaft, ein Pfeil, der zum Himmel flog und die Erde mit dem Mystischen Pol verband. Mit dem einzigen Festen Punkt, den das Universum je gehabt hatte: dem, den er, nur für diesen Augenblick, mit seinem Atem erschuf.
    Diotallevi hatte ihm noch nicht gesagt, daß man in Jessod sein kann, der Sefirah des Fundaments, dem Zeichen des Bundes des hohen Bogens, der sich spannt, um Pfeile abzu-senden auf Malchuth, sein Ziel. Jessod ist der Tropfen, der aus dem Pfeil quillt, um den Baum und die Frucht zu erzeugen, Jessod ist die Seele der Welt, denn es ist der Moment, in dem die männliche Kraft als zeugende alle Seinszustände miteinander verbindet.
    Wer diesen Venusgürtel zu weben weiß, der macht den Fehler des Demiurgen wett.
    Wie kann man ein Leben lang nach der GELEGENHEIT suchen, ohne zu merken, daß der entscheidende Augenblick, derjenige, der Geburt und Tod rechtfertigt, schon vorbei ist?
    Er kommt nicht wieder, aber er ist dagewesen, unaustilgbar, rund und voll, glänzend und generös wie jede Offenbarung.
    An jenem Tag hatte Jacopo Belbo der Wahrheit ins Auge gesehen. Der einzigen, die ihm jemals vergönnt sein sollte, 753
    denn die Wahrheit, die er damals erfuhr, war, daß die Wahrheit sehr kurz ist (hinterher ist alles nur Kommentar). Darum versuchte er, die Ungeduld der Zeit zu bändigen.
    Damals hatte er das ganz sicher noch nicht begriffen. Und wohl auch nicht, als er dann später darüber schrieb, oder als er beschloß, nicht mehr zu schreiben.
    Ich habe es heute abend begriffen: der Autor muß sterben, damit der Leser sich seiner Wahrheit innewird.
    Die Obsession des Foucaultschen Pendels, die Jacopo Belbo sein ganzes Erwachsenenleben lang verfolgt hatte, war —
    wie die verlorenen Adressen in seinem Traum — das Bild jenes anderen Moments gewesen, jenes damals registrierten und dann verdrängten Augenblicks, als er wirklich das Dach der Welt berührt hatte. Und dieser Augenblick, als er Raum und Zeit hatte erstarren lassen, indem er seinen Zenonschen Pfeil abschoß, das war kein Zeichen gewesen, kein Symptom, keine Anspielung, keine Figur, keine Signatur, kein Rätsel: es war, was es war, es stand nicht für etwas anderes, es war der Moment, in dem es keinen Weiterverweis mehr gibt und die Konten beglichen sind.
    Jacopo Belbo hatte nicht begriffen, daß er seinen Moment gehabt hatte und daß ihm dieser Moment für das ganze Leben hätte genügen müssen. Er hatte es nicht erkannt oder nicht anerkannt, denn er hatte sein ganzes restliches Leben damit verbracht, nach etwas anderem zu suchen, bis er sich selbst verdammte. Oder vielleicht hatte er es geahnt, sonst wäre er nicht so oft auf die Trompete zurückgekommen.
    Aber er hatte sie als etwas Verlorenes in Erinnerung, und dabei hatte er sie gehabt.
    Ich glaube, ich hoffe, ich bete, daß Jacopo Belbo in dem Augenblick, als er am Pendel schwingend starb, dies endlich begriffen und Frieden gefunden hat.
    Dann war das Rührt-euch gekommen. Er hätte ohnehin aufgeben müssen, da ihm die Luft ausging. Er setzte ab, setzte neu an und blies einen einzigen hohen Ton, den er in einem sanften Decrescendo abschwellen ließ, um die Welt an die Melancholie zu gewöhnen, die auf sie wartete.
    Der Kommandant sagte: »Bravo, junger Mann. Kannst jetzt gehen. Hast schön geblasen.«
    Der Probst eilte davon, die Partisanen marschierten zu ei-754
    nem Hinterausgang, wo ihre Lastwagen warteten, die Totengräber gingen, nachdem sie die Gruben zugeschüttet hatten. Jacopo ging als letzter.
    Er konnte sich nicht
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