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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel
Autoren: Umberto Eco
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gibt, was mehr Sinn hat als der Rest.
    Was war es, was Belbo geahnt hatte, vielleicht erst in jenem Moment, was hatte ihm erlaubt, den verzweifelten Worten in seinem letzten file zu widersprechen und sein Schicksal nicht in die Hände derer zu legen, die ihm irgendeinen Plan garantierten? Was hatte er begriffen — endlich —, das ihm nun erlaubte, sein Leben zu opfern, als hätte er alles, was er wissen mußte, schon vor langer Zeit entdeckt, ohne sich dessen bis zu diesem Moment bewußt gewesen zu sein, und als wäre angesichts dieses seines einzigen, wahren, absoluten Geheimnisses alles, was da im Conservatoire geschah, heillos dumm — so dumm, daß es dumm gewesen wäre, unbedingt weiterleben zu wollen?
    Mir fehlte etwas, ein Glied der Kette. Ich glaubte nun alle Heldentaten Belbos zu kennen, vom Leben bis zum Tode, außer einer.
    Bei der Ankunft in Mailand, als ich nach meinem Paß suchte, fand ich in einer Jackentasche den Schlüssel zu diesem Haus.
    Ich hatte ihn am letzten Donnerstag zusammen mit Belbos Wohnungsschlüssel eingesteckt. Bei seinem Anblick fiel mir jener Tag ein, als wir nach *** gekommen waren und Belbo uns den großen Wandschrank gezeigt hatte, der, wie er uns sagte, seine gesammelten Jugendwerke enthielt. Vielleicht hatte Belbo etwas geschrieben, was nicht in Abulafia zu finden war, und dieses Etwas lag in dem Wandschrank begraben?
    Es gab keinen vernünftigen Grund für diese meine Vermutung. Ein guter Grund — sagte ich mir —, sie ernst zu nehmen. Nach allem.
    So ging ich mein Auto holen und bin hierhergefahren.
    Niemand war da, nicht einmal die alte Verwandte der Canepas oder Hausmeisterin oder was sie gewesen sein mochte.
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    Vielleicht ist auch sie inzwischen gestorben. Das Haus ist leer. Ich bin durch die Zimmer gegangen, es riecht nach Feuchtigkeit, ich hatte sogar daran gedacht, den »Priester«
    in einem der Schlafzimmer anzuzünden. Aber es ist Unsinn, im Juni das Bett zu wärmen, sobald man die Fenster öffnet, kommt die laue Abendluft herein.
    Nach Sonnenuntergang war noch kein Mond zu sehen.
    Wie vorgestern nacht in Paris. Er ist erst sehr spät aufgegangen, ich sehe die schmale Sichel — noch schmaler als in Paris
    — erst jetzt, wo sie langsam über die flacheren Hügel steigt, in einer Senke zwischen dem Bricco und einem anderen gelblichen, vielleicht schon abgeernteten Buckel.
    Angekommen bin ich so gegen sechs, es war noch hell. Ich hatte mir nichts zu essen mitgebracht, aber in der Küche fand ich eine Salami an einem Haken hängen. Mein Abendessen bestand aus Salami und frischem Wasser, das war so gegen zehn. Jetzt habe ich Durst, ich habe mir eine große Karaffe Wasser in Onkel Carlos Arbeitszimmer geholt und trinke alle zehn Minuten ein Glas, dann gehe ich runter und fülle sie wieder auf. Es muß inzwischen bald drei sein. Aber ich habe das Licht gelöscht und kann die Uhr kaum noch lesen. Ich denke nach und sehe dabei aus dem Fenster. An den Hängen der Hügel sind winzige Lichter zu sehen, wie Glühwürmeben oder Sternschnuppen. Die Scheinwerfer ver-einzelter Autos, die ins Tal fahren oder hinauf zu den höher-gelegenen Dörfern. Als Belbo klein war, kann es diesen Anblick noch nicht gegeben haben. Es gab weder diese Autos noch diese Straßen, und nachts war Ausgangssperre.
    Gleich nach meiner Ankunft hatte ich den bewußten Wandschrank geöffnet. Borde und Fächer voller Papiere, von den Schulaufsätzen des Grundschülers bis zu Heften und Bündeln voller Gedichte und Prosa des Heranwachsen-den. Jeder hat als Heranwachsender Gedichte geschrieben, die wahren Dichter haben sie dann vernichtet, die schlechten haben sie veröffentlicht. Belbo war zu nüchtern, um sie aufzuheben, und zu schwach, um sie zu vernichten. So be-grub er sie in Onkel Carlos Schrank.
    Ich las einige Stunden lang. Und weitere lange Stunden, bis zu diesem Moment, habe ich über den letzten Text nachgedacht, den Text, den ich schließlich gefunden hatte, als ich die Suche gerade aufgeben wollte.
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    Ich weiß nicht, wann ihn Belbo geschrieben hat. Es sind Seiten und Seiten, auf denen sich verschiedene Handschriften überschneiden, oder es ist dieselbe Handschrift zu verschiedenen Zeiten. Als hätte er den Text sehr früh geschrieben, mit sechzehn oder siebzehn Jahren, ihn dann weggelegt und mit zwanzig wieder hervorgeholt, und mit dreißig wieder und womöglich später noch einmal. Bis er dann auf das Schreiben verzichtete und erst mit Abulafia wieder anfing, aber ohne zu wagen, diese
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