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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel
Autoren: Umberto Eco
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seines Todes fiel zusammen mit dem Aufschub der Enthüllung des Geheimnisses.
    Also versuchte er Belbo zu überreden, ihm das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, und als er begriff, daß es sinnlos war, provozierte er ihn, indem er seine Kapitulation voraussagte, aber mehr noch, indem er ihm eine melodramatische Szene vorspielte. Oh, er kannte ihn gut, der alte Graf, er wußte, daß bei Leuten vom Schlage Belbos die Dickköpfigkeit und der Sinn für das Lächerliche sogar die Angst besiegen. Er zwang Belbo, einen schärferen Ton anzuschlagen und endgültig nein zu sagen.
    Und aus derselben Angst zogen es die anderen vor, Belbo zu töten. Zwar verloren sie damit die Aussicht auf die gesuchte Karte — sie hatten ja noch Jahrhunderte Zeit, nach ihr zu suchen —, aber sie retteten sich die Jugendfrische ihrer alternden und sabbernden Begierde.
    Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir Amparo erzählt hatte. Bevor sie nach Italien gekommen war, hatte sie ein paar Monate in New York verbracht und dort in einer Gegend gewohnt, wo man höchstens hingeht, um Fernseh-filme über die Arbeit der Mordkommission zu drehen. Sie war oft spät in der Nacht allein nach Hause gekommen. Als ich sie fragte, ob sie denn keine Angst vor Vergewaltigungen gehabt habe, erklärte sie mir ihre Methode: Sobald ein Vergewaltiger näher kam und sich als solcher zu erkennen gab, nahm sie ihn am Arm und sagte: »Na komm, gehen wir ins Bett.« Woraufhin er panikartig davonlief.
    Ein Vergewaltiger will keinen Sex, er will die Erregung des Gewaltaktes, mit dem er sich den Sex holen muß, er will den Widerstand des Opfers brechen. Wird ihm der Sex freiwillig geboten und ihm gesagt, hic Rhodus, hic salta, dann ist es ganz natürlich, daß er wegrennt, was wäre er sonst für ein Vergewaltiger?
    Und wir sind hingegangen, um ihre Begierde zu wecken, um ihnen ein Geheimnis anzubieten, das leerer nicht sein konnte, denn wir kannten es nicht nur selber nicht, wir wußten 740
    auch, daß es falsch war.
    Die Maschine flog über den Mont Blanc, und alle Passagiere stürzten sich auf dieselbe Seite, um nicht die Offenbarung jener platten Beule zu versäumen, die da dank einer Dysto-nie der tellurischen Ströme gewachsen war. Ich dachte, wenn das, was ich gerade dachte, richtig war, dann gab es vielleicht die tellurischen Ströme gar nicht, genausowenig wie die Botschaft aus Provins. Aber die Geschichte der Entziffe-rung des Großen Plans, so wie wir sie rekonstruiert hatten, war dann nichts anderes als die Realgeschichte.
    Meine Gedanken gingen zurück zu Belbos letztem file... Aber wenn das Sein so leer und zerbrechlich ist, daß es sich nur an der Illusion derjenigen aufrechthält, die nach seinem Geheimnis suchen, dann gibt es wirklich — wie Amparo damals nach ihrer Niederlage sagte —, dann gibt es wirklich keine Erlösung, dann sind wir alle Sklaven, gebt uns einen Herrn, wir haben’s nicht besser verdient...
    Nein, das kann nicht alles sein. Das kann nicht alles sein, denn Lia hat mich gelehrt, daß es noch etwas anderes gibt, und ich habe den Beweis, er heißt Giulio, in diesem Moment spielt er wahrscheinlich gerade auf einer Bergwiese und zieht eine Ziege am Schwanz. Es kann nicht alles sein, denn Belbo hat zweimal nein gesagt.
    Das erste Nein hatte er zu Abulafia gesagt und zu jedem, der Abulafias Geheimnis zu knacken versuchte. »Hast du das Paßwort?« hieß die Frage. Und die Antwort, der Schlüssel zum Wissen, war »Nein«. Darin lag eine Wahrheit: Nicht nur gibt es das Zauberwort nicht, sondern wir müssen auch zugeben, daß wir es nicht kennen. Doch wer zugeben kann, daß er es nicht kennt, kann etwas erfahren, zumindest so viel, wie ich dann erfahren habe.
    Das zweite Nein hatte Belbo am Samstag abend gesagt, als er die angebotene Rettung ablehnte. Er hätte irgendeine Weltkarte erfinden können, er hätte eine von denen angeben können, die ich ihm gezeigt hatte — so wie das Pendel hing, hätte dieser Haufen Irrer das Zeichen für den Nabel der Welt ohnehin nie gefunden, und wenn doch, hätten sie weitere Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, daß es nicht das rich-741
    tige war. Aber nein, Belbo wollte sich nicht beugen, er wollte lieber sterben.
    Und es war nicht die Gier nach Macht, der er sich nicht beugen wollte, er wollte sich nicht dem Un-Sinn beugen. Das aber heißt, daß er irgendwie gewußt haben muß, daß es trotz aller Zerbrechlichkeit des Seins, trotz aller End- und Ziello-sigkeit unserer Befragung der Welt doch etwas
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