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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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und Meredith Leibovitz hatten als Eltern versagt, da gab es für ihn gar keine Zweifel. Ihr Sohn war ihnen in die Obhut gegeben worden, sie waren für sein Wohlergehen, für seine Gesundheit verantwortlich, und sie, Paul und Meredith Leibovitz, hatten ihn vor dieser Krankheit nicht schützen können. Wozu waren Vater und Mutter gut, wenn sie ihr Kind davor nicht bewahren konnten?
    »Hadern Sie nicht mit sich. Hadern Sie mit Gott, wenn Sie wollen. Hadern Sie mit dem Schicksal. Hadern Sie mit dem Leben, aber nicht mit sich. Sie können nichts dafür«, hatte ihnen Doktor Li, der behandelnde Onkologe, kurz nach der Diagnose in einem Gespräch geraten. Meredith hatte sich das zu Herzen genommen und sich in den folgenden Monaten von ihren anfänglichen Schuldgefühlen befreien können. Paul nicht. Er glaubte nicht an Gott, er glaubte nicht an ein Karma, es gab nichts und niemanden, den er für die Krankheit verantwortlich machen, dem er die Schuld dafür geben konnte. Nichts und niemandem außer seiner eigenen Unvollkommenheit.
    Paul stand am Fenster und schaute hinaus. Es war früh am Morgen, direkt vor dem Krankenhaus lagen mehrere Tennis- und Fußballplätze, ein paar Jogger nutzten die um diese Uhrzeit noch erträglichen Temperaturen und zogen ihre Runden. Die tief hängenden, dunkelgrauen Wolken der vergangenen Tage waren verschwunden und einem blauen, wolkenlosen Himmel gewichen. Der Monsunregen hatte den Smog aus der Luft gewaschen, und die Sicht war klar wie selten in Hongkong. Er konnte deutlich den Peak erkennen, davor den schlanken IFC-Turm und die Bank of China. Zwischen den Hochhäusern in Ost-Kowloon und Hung Hom schimmerte das silbergraue Wasser des Hafens, in dem bereits Dutzende von Fähren, Schlepper und Schuten kreuzten. Auf den hochgelegenen Schnellstraßen, der Gascoigne Road und der Chatham Road South, standen die Autos schon im Stau. Er dachte an den Strand in Repulse Bay und an das Meer und wie oft er an Wochenenden mit Justin um diese Uhrzeit hinausgegangen war, wenn Meredith noch schlief, und Sandburgen gebaut hatte. Nur sie beide, Vater und Sohn, umweht von der feucht-warmen, tropischen Sommerluft, getragen von einem gegenseitigen Verständnis, das keiner Worte bedurfte. Wie Justin ihn mit Matsch einschmieren durfte und wie sie lachend zurückkehrten und die verschlafene Meredith immer etwas irritiert auf ihre gute Laune reagierte und einige Zeit und zwei Kaffees benötigte, um sie mit ihnen teilen zu können.
    Er drehte sich um. Das Zimmer war winzig, kaum größer als eine Kammer, er konnte es mit zwei, drei großen Schritten durchqueren. An der rosa gestrichenen Wand stand Justins Bett, daneben das Gestell für den Tropf, ein Stuhl, ein Nachtschrank und ein ausziehbarer Sessel, auf dem Paul die Nächte verbrachte. Auf dem Nachtschrank lagen zwei Bücher, aus denen Paul oft vorlas, und ein Stapel Kassetten, die Justin bis vor einigen Tagen noch gern gehört hatte. Jetzt fehlte ihm selbst dazu die Kraft. Paul beobachtete seinen schlafenden Sohn. Seine Haut war so weiß wie die Bettwäsche, alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, auf dem Kopf wuchs ein weicher, hellblonder Flaum. Er atmete schwach, aber ruhig.
    Paul setzte sich und schloss die Augen. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen...« Neun Monate war es her, dass der Kinderarzt ihnen mit gedämpfter Stimme und sorgenvoller Miene die Ergebnisse der ersten Blutuntersuchung mitgeteilt hatte. Seitdem hörte er diesen Satz, er hatte von ihm Besitz ergriffen, hallte auch heute, neun Monate später noch durch seinen Kopf. Würde er ihn je wieder los werden? Würde er je wieder etwas anderes hören? »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen...«
    Warum mein Sohn?, hatte er damals den Arzt anbrüllen wollen, aber stattdessen geschwiegen und zugehört, wie der von Myeloischer Leukämie, von Hb-Werten, Knochenmarksuntersuchungen und Protokollen sprach. Warum Justin? Warum stellte Meredith sich diese Frage nicht mehr?
    Erleichterung gab es nur in den kurzen Momenten, in denen Paul nachts aufschreckte und glaubte, geträumt zu haben. Für Sekunden saß er dann im Bett und hatte das Gefühl, aus einem Albtraum erwacht zu sein. Es war nicht wahr. Die Blutwerte waren normal. Justin hatte noch seinen rötlich-blonden Lockenkopf, die Haare waren ihm nicht ausgefallen. Er lag nebenan in seinem Kinderzimmer im Bett und schlief. Dann erlebte Paul für einen kurzen Augenblick eine Leichtigkeit, eine Freude, so
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