Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
Vom Netzwerk:
ihn das Schuldgefühl des Überlebenden zu erdrücken drohte, an denen er nicht imstande war, etwas anderes zu machen als in seiner Hängematte auf der Terrasse zu liegen.
    Die Angst etwas zu vergessen. Justins verschlafenes Gesicht am Morgen. Seine großen blauen Augen, die so strahlen konnten. Sein Lächeln, seine Stimme.
    Bis zur Sonne und wieder zurück.
    Er wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich das Getöse der Welt auf seine Erinnerungen legte. Sie waren alles, was ihm von seinem Sohn geblieben war. Mit ihnen musste er bis zum Ende seines Lebens auskommen, und sie waren für ihn nicht nur ein unermesslich kostbares, sondern auch ein äußerst fragiles Gut. Es war kein Verlass auf sie. Erinnerungen täuschten. Erinnerungen verblassten. Erinnerungen verflüchtigten sich. Neue Eindrücke, neue Gesichter, Gerüche, Geräusche legten sich über die alten, die nach und nach an Kraft und Intensität verloren, bis sie in Vergessenheit gerieten. Selbst als Justin noch lebte, hatte Paul diesen Verlust als einen Schmerz empfunden, den er fast körperlich spürte. Wann hatte sein Sohn die ersten Worte gesprochen? Wo hatte er die allerersten Schritte gemacht? War es zu Ostern auf der Wiese des Country Clubs gewesen oder zwei Tage später beim Ausflug nach Macau auf dem Platz vor der Kathedrale? Damals hatte er geglaubt, er würde es niemals vergessen, und schon ein paar Jahre später war er im Zweifel. Dieser Verlust war nur erträglich gewesen, weil täglich neue Erinnerungen mit Justin hinzukamen und die alten ablösten. Aber jetzt? Er war angewiesen auf die, die er besaß, und ertappte sich schon manchmal dabei, wie er in sich hineinhorchte und für Momente nach Justins Stimme suchte, wie er die Augen schloss und sich konzentrieren musste, bis Justin vor ihm auftauchte.
    Um das Erlöschen zu verhindern, wollte er sich, soweit es irgend ging, vor allem Neuen schützen. Vergessen wäre Verrat. Vergessen ist ein Verwandter des Todes. Deshalb war er nach Lamma gezogen, und deshalb bewegte er sich auch nur in Ausnahmefällen und sehr unwillig von der Insel fort. Lamma war ruhig. Es gab keine Autos, weniger Menschen als sonstwo in Hongkong und kaum jemanden, den er kannte. Sein Haus lag in Tai Peng, einer Siedlung auf einem Hügel über Yung Shue Wan, zehn Minuten vom Fähranleger entfernt. Es versteckte sich hinter einem mächtigen Wall aus grünem Buschwerk und einem dichten Bambushain am Ende eines schmalen Pfades.
    Er hatte sich einen festen Tagesablauf verordnet. Er stand in der Morgendämmerung auf, trank unter der Markise auf der Terrasse genau eine Kanne Jasmintee, nie mehr aber auch nie weniger, machte auf dem Dach eine Stunde lang seine Tai-Chi-Übungen, ging ins Dorf, kaufte ein, aß immer im selben Restaurant am Hafen immer die gleiche Mischung aus Gemüse- und Shrimp-Dim Sum, dazu zwei gedämpfte, mit Schweinefleisch gefüllte chinesische Brötchen, trug anschließend die Einkäufe nach Hause und brach dann zu einer drei- bis vierstündigen Wanderung auf. Sein Weg führte ihn Tag für Tag an den kleinen Feldern vorbei, auf denen alte Männer und Frauen Unkraut jäteten, Erdkrumen zerhackten oder ihre Salate und Tomatenpflanzen mit Schädlingsbekämpfungsmitteln besprühten. Sie grüßten ihn mit einem Kopfnicken, er grüßte mit einem Kopfnicken zurück. Vor ihnen war er sicher. Nie würden sie auf die Idee verfallen, ihn anzusprechen oder ihn gar in ein Gespräch zu verwickeln. Er wanderte weiter nach Pak Kok, am Wasser in einem weiten Bogen zurück nach Yung Shue Wan, von da über die halbe Insel zum Lo-So-Shing Strand. Der war, abgesehen von manchen Wochenenden im Sommer, fast immer menschenleer. Paul schwamm exakt zwanzig Minuten. Anschließend setzte er sich eine halbe Stunde, an schönen Tagen auch länger, in den Schatten und schaute aufs Meer, jedes Mal erleichtert über die Vertrautheit des Anblicks. Oder er schloss die Augen und meditierte. Hier war nichts Unvorhersehbares zu befürchten.
    Sein Rückweg führte ihn über den Kamm eines lang gestreckten Hügels, von wo er auf den schmalen East-Lamma-Channel blickte, der die Insel von Hongkong trennte. Nur selten verharrte er auf diesem Pfad eine Weile, betrachtete die großen, vollgeladenen Containerschiffe und fragte sich, was sie wohl geladen hatten und wohin ihre Reise ging. Seine einzigen Begleiter waren streunende Hunde oder eine herrenlose Katze. Den Rest des Tages verbrachte er im Garten oder auf der Dachterrasse, pflegte seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher