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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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nur voll Trauer an Dich, sondern mit einem neuen, gänzlich fremden Gefühl. Ich wusste zunächst gar nicht, was es war oder wie ich es beschreiben sollte. Ich habe den ganzen Abend und eben auch die halbe Nacht darüber nachgedacht, und ich glaube jetzt zu wissen, wie ich es nennen kann: Dankbarkeit. Ein besseres Wort fällt mir dafür nicht ein. Jetzt höre ich Dich ganz entschieden sagen: Wie meinst Du das, Papa? Wieso Dankbarkeit? Was habe ich denn getan, dass Du mir dankbar bist? So hast Du mich immer gefragt, wenn Du etwas nicht verstanden hast.
    Ich bin Dir für jedes Lächeln dankbar. Jetzt schau mich nicht so an, als wäre ein Lächeln nichts, wofür ein Mensch dankbar sein müsste. Ich meine es ernst. Für jede Muschelsuche am Strand. Jede Gute-Nacht-Geschichte, die ich Dir erzählen durfte. Jeden Morgen, den Du in unser Bett gekrochen kamst. Ich bin Dir dankbar für jede Frage, die Du mir gestellt hast, jeden Augenblick, den ich mit Dir teilen durfte. Unendlich dankbar. Das bin ich früher nicht immer gewesen, weil ich all das für Selbstverständlichkeiten gehalten habe, aber Deine Krankheit hat mich gelehrt, niemals wieder irgendetwas für selbstverständlich zu nehmen. Ich weiß jetzt, dass manche Erinnerungen verblassen mögen oder ganz verschwinden können, aber das macht nichts. Ich muss nicht fortwährend an Dich denken, um Dich bei mir zu wissen.
    Ich glaube, gestern Nachmittag war es das erste Mal, dass die Dankbarkeit stärker war als die Trauer. Vorher hat der Schmerz, dass Du nicht mehr physisch da bist, dass ich Dich nicht mehr berühren kann, dass Du nicht mehr neben mir gehst und meine Hand nimmst, wenn Dich etwas erschreckt, dieser Schmerz hat alles überschattet. Ich kannte die Macht der Angst. Ich kannte die Macht der Eifersucht und der Trauer, aber nicht die der Dankbarkeit.
    Nun magst Du fragen, warum ich das ausgerechnet gestern gespürt habe. Warum nicht vor einer Woche, einem Monat, einem Jahr, wie vermutlich Deine Mutter? Ich weiß es nicht, ich kann Dir diese Frage nicht beantworten. Ich weiß nur, dass es im Leben keine Abkürzungen gibt, egal wie sehr wir uns auch danach sehnen, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo geht und jeder Versuch, auf dieses Tempo maßgeblich Einfluss zu nehmen, entweder scheitert oder wir dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Mein Weg zu diesem Gefühl führte über die Trennung von Deiner Mutter, über Lamma, über endlose Stunden der Einsamkeit, über einen toten jungen Amerikaner und vor allem über Christine, von der ich Dir ja schon viel geschrieben habe. Dieser Weg hat auf den Tag genau drei Jahre, zwei Monate und elf Tage gedauert.
    Ich erinnere mich, dass unser Arzt, Doktor Li, mir in den Tagen nach Deinem Tod so etwas prophezeite, aber damals habe ich den Gedanken brüsk abgelehnt, ja mehr noch, ich war richtig wütend geworden, weil ich allein schon die Idee als einen Verrat an Dir, an meiner Trauer empfand. Wie soll ein Mensch, dem der Tod gerade seinen Sohn geraubt hat, Dankbarkeit empfinden? Das war zu viel verlangt.
     
    So, nun ist es langsam an der Zeit aufzuhören, denn ich muss noch ins Dorf, meine Einkäufe erledigen. Am späten Nachmittag erwarte ich Besuch, Du wirst es nicht glauben. Christine und ihr Sohn Josh kommen und David und seine Frau Mei, und sie bringen ihren Sohn Zhang mit. Natürlich bin ich ein wenig aufgeregt, ich habe hier auf Lamma noch nie zwei Menschen gleichzeitig zu Gast gehabt und hoffe, dass mich der Besuch nicht überfordert. Mehr als diese Freunde sind mir nicht geblieben, und ich wollte gern, dass sie sich einmal kennen lernen. Werden sie sich mögen? Werden sie sich etwas zu sagen haben? Ich fühle mich so, wie Du früher vor Deinen Geburtstagsfeiern.
    Mei ist vor zwei Wochen wieder bei David eingezogen, ich glaube, sie hat ihn zu lieb, sie konnte gar nicht anders, als ihm irgendwann zu verzeihen. Sie wollen ihn übrigens zum neuen Leiter der Mordkommission machen, aber ich weiß nicht, ob das das Richtige für ihn wäre. Ich habe mich mit ihm schon vor einigen Wochen wieder vertragen. Christine hat Recht behalten, und manchmal ist es gut, wenn sich chinesische Philosophen irren: Verlorenes Vertrauen kann doch zurückkehren.
    Sei nicht enttäuscht, aber dies könnte für eine Zeit der letzte Brief sein, denn ich habe das Gefühl, Dir nun alles erzählt zu haben.
    »Paul, das Leben geht weiter«, hat Deine Mutter einmal zu mir gesagt, und ich habe mich über diesen Satz damals ganz schrecklich empört,
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