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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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aufzwingen. Außerdem geht es dich nichts an. Das ist eine Geschichte zwischen den beiden.«
    Paul seufzte einmal tief. »Manchmal beneide ich dich um deinen Pragmatismus.«
    »Du meinst, um meine schlichte Sicht auf die Welt?«, fragte sie mit gespielter Empörung.
    »Nein«, Paul musste laut lachen. »Überhaupt nicht. Aber mich quälen solche Dinge ewig.«
    Er schüttelte den Kopf, stand auf, holte eine zweite Flasche Champagner aus dem Kühlschrank, nahm ihren Kopf in seinen Arm und küsste sie. »Genau dafür bin ich dir dankbar, Christine. Für deinen Humor und dein Vertrauen in die Menschen, auch wenn ich es nicht immer teilen kann.«
    »Dann nimm dich in Acht vor mir: Vertrauen ist ansteckend.«
    Es war noch immer wunderbar warm, sie schoben die Stühle zusammen und saßen sich gegenüber, die Beine des anderen auf dem Schoß. Sie redeten und aßen und tranken auch die zweite Flasche, bis sie die ersten Vögel hörten und der Himmel über ihnen allmählich wieder heller wurde.
    Christine konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal in Hongkong eine Nacht im Freien verbracht hatte.
    Irgendwann gingen sie hoch und krochen ins Bett, das noch immer nach ihnen roch. Paul lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit offenen Augen neben ihr und lächelte, und Christine musste an ihren Sohn denken. Nicht, dass es zwischen den beiden äußerlich auch nur die geringste Ähnlichkeit gab, aber sein Blick erinnerte sie an den drei, vierjährigen Josh und mit was für einem Strahlen, mit welch bedingungsloser Freude er sie manchmal am Morgen begrüßt hatte. Es dauerte nicht lange, da war Paul eingeschlafen, und Christine beobachtete ihn, viel zu glücklich, um an Schlaf zu denken. Sie hatte sich den Tag frei genommen, das erste Mal seit vielen Jahren, selbst am Tag der Beerdigung ihrer Großmutter war sie noch am Nachmittag ins Büro gegangen. Nach einer Weile stand sie auf, um Paul mit einem Frühstück zu verwöhnen. Sie schlich hinunter, räumte den Garten auf, kochte Tee, holte das Glas Himbeermarmelade und die Croissants aus der Tasche, die sie als Überraschung mitgebracht hatte. Sie machte sie im Ofen warm, stellte alles auf ein Tablett, ging wieder hoch und setzte sich zu ihm aufs Bett.
    Sie hörte seinen ruhigen, gleichmäßigen Atem, betrachtete im warmen Licht des frühen Tages sein entspanntes Gesicht und fragte sich, ob sie Angst davor hatte, dass er sie, wie häufiger in den vergangenen Monaten, noch einmal wegstoßen würde, ob sie sich fürchtete, von ihm verlassen oder betrogen zu werden, so wie sie von ihrem Mann verlassen und betrogen worden war. Ob die Verletzungen, die dieser ihr zugefügt hatte, sie bis heute verfolgten. Nein, dachte sie, nein, das tun sie nicht, der Macht des Misstrauens wollte sie sich nicht ergeben. Ihre beste Freundin nannte sie deshalb naiv und leichtgläubig, ihre Mutter schimpfte sie, was die Liebe betraf, arglos, einfältig und weltfremd. Christine wusste, dass sie von alledem nichts war. Wie sollte ein liebender Mensch einfältig sein? Wie konnte man sie weltfremd nennen, wenn es doch auf der Welt um kaum etwas anderes ging als darum, zu lieben und geliebt zu werden?
    Sie dachte an jenen kalten, verregneten Februartag, als sie Paul zum ersten Mal begegnet war. Damals hatte sie das Gefühl, er zerspringe wie eine zerberstende Autoglasscheibe in Tausende von kleinen Einzelteilen. Er war schweigsam, als hätte er seine Sprache verloren, sie erinnerte diesen verletzlichen Ausdruck in seinem Gesicht, und heute Nacht, im Flackern der Kerzen, hatte er nicht weniger verwundbar ausgesehen, aber in seine Augen war etwas zurückgekehrt, ein Leuchten, das sie in all den Monaten nicht bei ihm gesehen hatte, von dem sie aber immer gewusst hatte, dass es existierte. Er hatte gelacht und gealbert, hatte sie geliebt wie kein Mann zuvor und dabei seine Sprache wiedergefunden. Er würde sie nicht wieder verlieren, dessen war sie sich gewiss. Er hatte sie auf den Händen durchs Haus und ins Schlafzimmer getragen.
    An den Gummistiefeln und der Regenjacke vorbei.

EPILOG
    Hongkong, im November
     
    Lieber Justin,
     
    es ist noch sehr früh, die Sonne ist erst vor einer guten halben Stunde aufgewacht und kam in hellem Rot aus dem Meer ›gekrochen‹, wie Du es immer nanntest. (Erinnerst Du Dich, wie wir sie das erste Mal im Meer haben versinken sehen? Du hattest Angst, sie würde für immer erlöschen, und als sie am nächsten Morgen wieder aufging, warst Du für lange Zeit fest
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