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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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davon überzeugt, dass sie im Wasser schläft und dass das Meer deshalb so warm ist.)
    Ich bin heute noch viel früher aufgewacht als sonst und konnte keine Ruhe finden, weil mir ein ganz besonderes Erlebnis von gestern durch den Kopf ging, aber davon erzähle ich Dir später mehr. Jedenfalls habe ich nicht viel geschlafen und es im Bett nicht länger ausgehalten und bin aufgestanden, als Vögel und kleine Kinder noch schliefen. Nun sitze ich, wie jeden Morgen in den vergangenen Wochen, auf der Dachterrasse, habe vorsichtshalber schon den Sonnenschirm aufgespannt, vor mir steht eine Kanne Tee, und in der Ferne, durch den Bambus hindurch, sehe ich das Sonnenlicht auf dem Meer tanzen. Heute wird wieder ein guter Tag, das spüre ich, die Luft ist so klar, wie sie es in Hongkong nur im November ist, und in meinem Garten duftet es nach Honig, weil der Frangipani so viele Blüten trägt wie noch nie zuvor.
    Neben mir liegt ein großer Stapel Papier, mit der Hand eng beschriebene Seiten, all die Briefe, die ich Dir gewidmet habe. Ich hatte schon vor längerer Zeit die Idee, Dir zu schreiben, aber nicht den Mut gehabt. Wer schreibt schon Briefe an seinen verstorbenen Sohn? Ich habe mich erst getraut, nachdem ich aus China von meiner Reise als Hilfskommissar zurückgekehrt bin. Bei den ersten Zeilen habe ich mich noch ausgesprochen sonderbar gefühlt, aber Christine hat mich sehr ermuntert, schließlich wollte sie Dich kennen lernen, und dies ist nun einmal der einzige Weg. Es ging mir mit jedem Brief ein wenig besser, und ich musste vor ein paar Tagen an einen älteren französischen Journalisten denken, den ich in Saigon gegen Ende des Krieges häufiger traf. Vielleicht habe ich Dir früher schon einmal von ihm erzählt. Ich habe ihn, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, auf der Terrasse oder in der Lobby unseres Hotels immer nur schreibend gesehen. Er schrieb sogar, während er allein frühstückte oder zu Abend aß, und eines Tages bin ich zu ihm an den Tisch gegangen und habe gefragt, warum. Schreiben hilft! war seine Antwort. Ich wusste damals, als Anfang Zwanzigjähriger nicht, wovon er sprach. Wogegen sollte Schreiben schon helfen? Nun, nach über fünfzig Briefen an Dich weiß ich, was er meinte. Schreiben hilft wirklich. Es hilft gegen Einsamkeit. Es hilft gegen Angst. Gegen den Terror des Vergessens. Gegen die Melancholie des Alltags. Schreiben besitzt eine geradezu magische Kraft, ich benötige nichts außer einem leeren Blatt Papier und meinen Bleistift. (Ja, ja und einen Anspitzer, höre ich Dich sagen.)
    Ich habe alles aufgeschrieben, was mir seit Deiner Geburt wichtig war, der Moment, an dem ich Dich das erste Mal in den Armen hielt, das erste Mal badete, ich habe von unseren Ausflügen auf den Peak erzählt, von den vielen blauen Flecken, die so plötzlich auftauchten und die wir nicht als Symptome erkannten, bis zu der Geschichte von Michael Owen und seinen Eltern. Mit jedem Satz, mit jeder Zeile ging es mir besser. (Jetzt muss ich an den Nachmittag denken, an dem Du krank auf dem Sofa gesessen hast und nicht von Deinem Buch lassen wolltest, und als ich Dich mehrfach und am Ende mit ärgerlicher Stimme ermahnte, Dich auszuruhen, hast Du behauptet: Lesen hilft. Wogegen, wollte ich wissen? Du hast mit Deiner Antwort lange gezögert. Schließlich sagtest Du in einem Ton, der sich von nichts beirren lassen wollte: Bauchschmerzen. Langeweile. Schlechte Laune. Schimpfende Papas. Also Schreiben und Lesen helfen!)
     
    Gestern Nachmittag habe ich das Haus gründlich sauber gemacht, seit Deiner Erkrankung habe ich einen Putzfimmel, den ich nicht mehr loswerde, und hielt im Flur so plötzlich inne, als hättest Du mich gerufen. Ich stand vor Deinen gelben Gummistiefeln und der roten Regenjacke mit den blauen Punkten. Ich betrachtete die Markierungen am Türrahmen, den ich in unserer Wohnung in Repulse Bay ausgebaut und mitgenommen habe. Sie hören an einem 28. Februar bei 128 Zentimetern auf. Du bist ein schmächtiges Kind gewesen. Schon bei der Geburt.
    Ich überlegte, wie groß Du jetzt wohl wärst. Ob Du mir bis zur Brust reichen würdest, welche Schuhgröße Du hättest. Ich sah Dich vor mir stehen, deinen blonden Lockenkopf, Deine tiefblauen Augen und dieses Lächeln, das mich erweichen konnte wie sonst nichts auf der Welt. Ich fühlte, wie der Druck in meinen Augen wieder einmal zu wachsen begann, und plötzlich geschah etwas, von dem ich nicht geglaubt hätte, dass es jemals geschehen würde: Ich dachte nicht
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