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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Beinen nicht ganz so albern aussah.
    »Was habe ich mir zuschulden kommen lassen, wenn ich fragen darf?«
    »Die Liste ist lang. Bestechung in diversen, schweren Fällen. Veruntreuung von Staatsgeldern. Steuerhinterziehung und«, er machte eine kurze, spannungsvolle Pause, als wolle er damit dem nächsten Satz noch mehr Bedeutung verleihen: »Mord.«
    »Das ist absurd«, entfuhr es Tang. »Ich glaube, Sie wissen gar nicht, wen Sie hier vor sich sitzen haben. Ein Anruf von mir genügt, und dieser alberne Spuk ist vorbei.«
    Der Inspektor holte aus seiner Tasche Tangs Mobiltelefon, das die Männer ihm im Wagen abgenommen hatten, und warf es ihm zu.
    »Bitte, versuchen Sie Ihr Glück. Uns würde es, um ehrlich zu sein, auch sehr interessieren, an wen Sie sich in einer solchen Situation wenden.«
    Das Handy landete neben ihm auf dem Sofa. Tang starrte es an und spürte, wie ihm heiß wurde. Bloß jetzt keine Schweißperlen auf der Stirn. Diese Kaltschnäuzigkeit hatte er nicht erwartet. Dieser Mann hatte ein anderes Format als die Parteikader, Bonzen und lokalen Funktionäre, mit denen er es sonst zu tun hatte. Drohungen beeindruckten ihn nicht, er war ein Abgesandter aus der Hauptstadt und besaß den unerbittlichen, selbstgerechten Habitus von Menschen, die im Auftrag der Mächtigen handeln. Ich muss einen neuen Ton finden, dachte Tang, um diesen Beamten meine Überlegenheit spüren zu lassen.
    »Inspektor Wen, was wissen Sie eigentlich über mich?«, fragte er in einem so jovialen Ton wie möglich.
    »Viel.«
    »Ich meine, über mich persönlich?«
    »Sie wurden 1952 in Chengdu als Sohn eines Armeeoffiziers geboren und...«
    »Richtig«, fiel ihm Tang ins Wort. »Ich gehörte den Roten Garden an, habe während der Kulturrevolution eine Arbeitsbrigade auf dem Land angeführt und später vier Jahre in Harvard studiert. Der erste Rotgardist, der es auf eine amerikanische Elite-Universität geschafft hat. Wussten Sie das?«
    Der Inspektor nickte nur. Erstaunen oder gar Bewunderung sahen anders aus. Er war eine andere Generation, tröstete sich Tang. Viel zu jung, um zu begreifen, was das für eine Leistung war.
    »Mein ganz persönlicher Langer Marsch sozusagen.«
    Schweigen. Nicht einmal ein Lächeln flog bei dieser Anspielung über das ausdruckslose Apparatschik-Gesicht.
    »Zu Beginn der Wirtschaftsreformen habe ich im Auftrag der Regierung von Sichuan hier in Shenzhen mehrere Firmen gegründet und für die Provinz schätzungsweise an die hundert Millionen amerikanische Dollar verdient.«
    Keine Reaktion. Als spräche er mit einer Wand.
    Dieses Gespräch hatte von Beginn an eine ungute Wendung genommen, und Tang spürte, wie er immer nervöser wurde. Er hatte seine Überlegenheit demonstrieren wollen und fühlte sich nun zunehmend kleiner. Als hätte dieses Sofa magische Kräfte, die ihn auf die Größe eines 14jährigen schrumpfen ließen.
    »Dann habe ich mich selbstständig gemacht und als, wie Sie wissen, sehr erfolgreicher Unternehmer etabliert.«
    »Nicht auf legalem Weg. Deshalb sitzen wir hier.«
    »Inspektor Wen.« Vielleicht würde ein Scherz die Situation etwas entspannen: »Hinter jedem großen Vermögen steht ein großes Verbrechen.«
    »So?«
    »Wissen Sie, wer das gesagt hat?«
    »Nein. Chairman Mao? Präsident Hu?«
    Tang seufzte tief. »Balzac.«
    »Wer?«
    »Ein französischer Schriftsteller, aber vergessen Sie es.«
    Er konnte nicht glauben, dass er diesem jungen Mann Rede und Antwort stehen sollte. Musste er ihm erst einmal Nachhilfeunterricht in Geschichte erteilen? Was zum Teufel warf er ihm überhaupt vor? Den Mord an Michael Owen würden sie ihm nur ganz schwer nachweisen können. Was blieb, waren Delikte wie Betrug, Veruntreuung, Bestechung. Lachhaft. In welchem China lebte der Mensch? Dies war eine Gründerzeit, ein Goldrausch, in dem jeder sich nahm, was er kriegen konnte, so viel er kriegen konnte. Eine Phase, wie sie jede Großmacht in ihrer Geschichte einmal durchmacht. Es war die Zeit der Glücksritter und Hasardeure, der Spekulanten und Räuberbarone. Es waren Menschen wie er, Tang, die das Land voranbrachten, ohne sie säßen die Leute hier im Dreck und würden Baumrinden kauen wie die Nordkoreaner. Was glaubte der Inspektor, wie die Rothschilds und die Rockefellers zu ihrem Vermögen gekommen waren? Indem sie jeden Cent oder jeden Centime ehrlich abgerechnet hatten? Indem sie sich an Verträge gehalten hatten?
    »Wenn Sie diese Straftatbestände in China plötzlich durchsetzen wollen«,
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