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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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fragte er sich, während er das Moskitonetz zur Seite schob und aufstand. Warum schweigen sie, sobald die Vögel singen? Als wenn das Sonnenlicht ihnen ihre Kraft raubte.
    Er machte sein Bett, rollte das Netz, das ihn gegen die Mücken schützte, zusammen, stellte die Ventilatoren aus, ging hinunter in die Küche, setzte im Tauchsieder Teewasser auf, ging wieder hoch ins Badezimmer und stellte die Dusche an. Das Wasser war zu warm, um wirklich zu erfrischen. Es war eine typische tropische Sommernacht gewesen, heiß und feucht, er hatte viel geschwitzt, trotz der zwei Ventilatoren, die am Fußende seines Bettes standen. Seine Nachbarn hielten ihn für verrückt, weil er sich weigerte, wenigstens im Schlafzimmer eine Klimaanlage einzubauen, er war, vom alten Teng abgesehen, der Einzige auf dem Hügel, der auf diesen Luxus freiwillig verzichtete. Früher war er oft nachts vom gekühlten ehelichen Schlafzimmer auf das Sofa im Wohnzimmer gezogen, hatte dort die Fenster weit geöffnet und die feucht-warme Luft herein gelassen. Meredith verstand das nicht, sie hasste es zu schwitzen, hasste das klebrige Gefühl auf ihrer Haut, die feuchten Sachen am Körper, »diesen Geruch«, wie sie ihn nannte und den sie verabscheute, obgleich es ihr eigener war. Heute fragte Paul sich, ob ihm das hätte eine Warnung sein sollen? Wie hatte er glauben können, mit einem Menschen glücklich zu werden, der sich selbst nicht riechen konnte?
    Zu Beginn ihrer Liebe war sie nicht so empfindlich gewesen oder zumindest hatte sie sich sehr bemüht, es nicht zu zeigen. Sie hatten viele wunderschöne Abende auf Pauls kleinem Balkon im vierzehnten Stock eines Hochhauses in Happy Valley verbracht, hatten dort nach langen Tagen im Büro zu Abend gegessen, getrunken, geredet und gelacht, obgleich ihre Körper im Schweiß badeten. Er durfte sie berühren und verführen, ohne dass ihr der eigene Geruch, die feuchten Körper unangenehm waren. Später nicht mehr. Später war ihr Schlafzimmer so heruntergekühlt, dass Sex ohne Bettdecke unweigerlich zu einer Erkältung geführt hätte. Meredith bewegte sich neun Monate des Jahres praktisch ausschließlich zwischen ihrem klimatisierten Büro, gekühlten Restaurants, Einkaufszentren und Autos und ihrer klimatisierten Wohnung hin und her.
    Meredith. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal an sie gedacht hatte. Vermutlich an Justins Geburtstag vor vier Monaten. Er hatte kurz überlegt, sie anzurufen, bis ihm einfiel, dass er nicht einmal ihre Telefonnummer in London besaß. Sein Anwalt hätte sie ihm vermutlich besorgen können, aber das wäre zu viel der Mühe gewesen, nur um sich dann am Telefon nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln wieder anzuschweigen. Warum endete jedes Gespräch zwischen ihnen in einer erdrückenden Stille, als wäre das ein Naturgesetz? Sie stritten sich nicht einmal mehr, damit hatten sie schon wenige Wochen nach Justins Tod aufgehört. Es war mehr das Gefühl einer großen Leere, eines Überdrusses aneinander, einer Gleichgültigkeit, die er nie für möglich gehalten hätte. Warum hatte ihre Leidenschaft füreinander keine Spuren hinterlassen? Bei anderen Paaren, die sich trennten, konnte er Kränkungen beobachten, Bitterkeit über enttäuschte Erwartungen, Wut, ja Hass. Er spürte nichts davon, und er hatte den Eindruck, dass es Meredith genauso ging. Als hätte es ihre Liebe nie gegeben.
    Selbst als sie ihm knapp ein Jahr nach Justins Tod berichtete, dass sie in wenigen Wochen nach London ziehen werde, um, wie sie sich ausdrückte, »das Kapitel Hongkong zu vergessen«, fühlte er sich nicht gekränkt, obgleich er nicht als Teil eines Kapitels, das es zu vergessen galt, gesehen werden wollte. Er hatte ihr nur »viel Glück und alles Gute« gewünscht. Sie hatte sich höflich bedankt und ihm vor dem Mandarin Oriental Hotel die Hand gegeben, und erst Tage später war ihm die Absurdität dieses formellen Abschieds aufgefallen. Seitdem hatten sie nur noch sporadisch voneinander gehört. Da er bis vor einem halben Jahr weder ein Telefon noch einen Computer besessen hatte, war er nicht leicht zu erreichen gewesen. Er hatte einmal gelesen, dass sich die meisten Paare aus denselben Gründen trennen, aus denen sie zusammengekommen waren, und überlegte, ob das bei ihnen auch der Fall war.
    Wann hatten sie begonnen, getrennte Wege zu gehen? War es in den Tagen nach der Diagnose und dem folgenden Streit darüber, wo Justin behandelt werden sollte? Ob in London, wo nach Merediths Meinung
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