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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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unermesslich, ja fast töricht, wie nie zuvor in seinem Leben. Umso schlimmer war der Absturz Sekunden später.
    Wo war Meredith? Warum war sie nicht bei ihnen? Sie saß im Flugzeug. Flog vermutlich gerade in 12 000 Meter Höhe über Pakistan und Indien hinweg. Oder über Kasachstan und Usbekistan, je nachdem ob die Maschine aus London die nördliche oder die südliche Route genommen hatte. Eine ganz wichtige Konferenz, hatte sie gesagt. Es ging um die neue China-Strategie der Bank. Um Investitionen und Beteiligungen in Milliardenhöhe. Da könne sie als Leiterin der Hongkong-Niederlassung unmöglich fehlen. Zwei, maximal drei Tage sei sie in Europa. Bis zur kommenden Woche könnten sie Justins Zustand stabil halten, das hätten ihr die Ärzte versichert. Außerdem betäubte das Morphium Justin, er schlief praktisch den ganzen Tag, da würde er, so glaubte sie, die Abwesenheit seiner Mutter ohnehin nicht bemerken. Sie hatte ihn, Paul, angeschaut, und sie hatten sich kurz in die Augen geblickt. Zum ersten Mal nach langer Zeit. Sollte er ihr widersprechen? Sollte er ihr erklären, dass er fest davon überzeugt war, dass Justin sehr wohl spürte, ob Vater oder Mutter im Zimmer waren, ob sie bei ihm saßen, ihm die Hand hielten, über die Stirn strichen oder zu ihm sprachen, auch wenn sein Körper keine offensichtliche Reaktion mehr zeigte. Deshalb hatte er seit fast einer Woche das winzige Zimmer praktisch nicht verlassen. Deshalb saß er hier, campierte auf dem kleinen Ausziehsessel, der mindestens zehn Zentimeter zu kurz war und auf dem an Schlaf nicht zu denken war. Deshalb las er aus Büchern vor, sang Schlaf-, Wander- und Weihnachtslieder, alles, was ihm einfiel, bis ihm die Stimme versagte. Er wusste, dass Meredith ihre Entscheidung gefällt hatte und dass sie sich nicht umstimmen lassen würde, dass sie von ihm nicht einmal mehr Verständnis erwartete.
    Merediths Arbeitsbelastung hatte in dem Maß zugenommen, in dem sich Justins Zustand verschlechterte. Irgendwo hatte er gelesen, dass das kein untypisches Verhalten sei bei Eltern, deren Kinder an Krebs erkranken, untypisch war nur, dass es in ihrem Fall die Frau war, die sich in die Arbeit flüchtete. Zwei Tage nach der Diagnose war sie ganz unerwartet nach Tokio geflogen. Sie pendelte fortan häufiger zwischen Peking, Shanghai und Hongkong, langen Arbeitstagen folgten Abendessen mit Kunden, die bis spät in die Nacht dauerten. Zu Beginn der Krankheit hatte sie noch um Pauls Verständnis geworben. Hatte ihm erklärt, wie schwer es ihr fiele, wie zerrissen sie sei, wie oft sie vor dem Start in den Maschinen saß und aufstehen und wieder hinauslaufen wollte, wie viel Kraft es sie kostete, diesen Impulsen nicht nachzugeben.
    Seit dem Rückfall vor zwei Monaten nicht mehr. Seitdem klar war, dass es kaum Hoffnung für Justin gab, fragte sie nicht mehr und warb um nichts. Sie teilte mit. Paul hatte manchmal den Eindruck, als hätte sie ihren Sohn bereits aufgegeben, wie ein marodes Unternehmen, dessen Bilanzen sie gründlich studiert hatte, bevor sie zu dem Schluss gelangte, dass es keine Rettung gab und jede weitere Investition nichts als reine Vergeudung von Ressourcen darstellte. Ressourcen, die woanders dringender gebraucht wurden.
    Auf der Kinderkrebsstation hatte Paul zwei verschiedene Arten von Paaren beobachtet. Die einen schauten sich noch in die Augen, die Krankheit ihres Kindes schmiedete sie zusammen, sie teilten ihre Angst, ihre Verzweiflung und ihre Schuldgefühle miteinander. Sie stützten sich, gaben sich Kraft oder klammerten sich aneinander. Die anderen schlichen über die Krankenhausflure, die Köpfe gesenkt, die Augen starr auf den Boden gerichtet. Sie fürchteten den Blick ihres Mannes oder ihrer Frau, weil sich darin spiegelte, was sie nicht sehen wollten: ihre eigene Furcht, ihre Wut und ihre grenzenlose Trauer. Die Krankheit trieb sie auseinander. Sie verstummten im Angesicht des Todes, sie wandten sich ab, sie zogen sich zurück, immer verzweifelter auf der Suche nach einem Ort, wo sie der Schmerz hoffentlich nicht finden würde. Zu ihnen gehörten Paul und Meredith Leibovitz.
    Selbst vor drei Tagen, bei der schwierigsten aller Entscheidungen, konnten sie sich nicht mehr in die Augen schauen, saßen sie Seite an Seite, ohne einander zu berühren, wie zwei Fremde, waren nicht in der Lage, Hilfe und Kraft im anderen zu finden. Die Ärzte machten ihnen keine Hoffnungen. Der Rückfall vor sechs Wochen war ebenso unerwartet wie heftig. Die
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