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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Ärzte und Behandlung mit Sicherheit kompetenter wären, oder in Hongkong, wie Paul es wünschte und wo sich die Chemotherapie durch nichts von der in Europa unterschied, wie ihnen sowohl die Onkologen am Queen Elizabeth Hospital als auch deren Kollegen in England versicherten. Meredith gab am Ende widerwillig nach, aber von dem Augenblick, in dem sich abzeichnete, dass der Krebs auch den neuesten und aggressivsten Chemikalien widerstehen würde, ließ sie keinen Zweifel daran, wem sie die Schuld daran gab und dass die Überlebenschancen im Vereinigten Königreich besser gewesen wären.
    Oder hatte die Trennung viel früher begonnen, damals, als sie erfuhren, dass sie schwanger war und seine Freude darüber die ihre bei weitem übertraf? »Es gibt keinen Zweifel, Sie sind schwanger«, hatte der Gynäkologe ihnen schon im Wartezimmer gesagt, und während Pauls Augen strahlten und seine Hand die ihre suchte, schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Vor Freude, Paul, bitte glaube mir, es ist nichts, nur die Freude. Diese in den folgenden Tagen oft wiederholte Versicherung ließ seine Zweifel jedoch nicht verstummen. Wünschte sie sich wirklich ein Kind? Sie arbeitete viel und mit Leidenschaft, sie war weltweit die jüngste Abteilungsleiterin ihrer Bank, ihr Aufstieg in den Vorstand der Hongkong-Niederlassung mehr als nur eine vage Hoffnung, und ein Kind wäre für ihre weitere Karriere, zumindest kurzfristig, alles andere als förderlich, das hatten der Vorgesetzte ihr und einigen Kolleginnen unmissverständlich zu verstehen gegeben. Außerdem hatte sie nie zu jenen Frauen gehört, für die Mutterschaft ein existenzieller Teil ihres Lebensplans ist. Am Ende war es nicht ihr Wunsch nach einem Kind, so erklärte sie ihm Jahre später, der den Ausschlag gegeben hatte, sondern Pauls. Er habe ihr leidgetan, weil er keine Familie besaß. Er war ein Einzelkind, seine Mutter hatte sich kurz nach seinem 21. Geburtstag das Leben genommen, sein Vater war vor einigen Jahren gestorben, Paul hatte, solange Meredith ihn kannte, nicht einmal den Namen auch nur eines entfernten Verwandten erwähnt, die wenigen, die ihm vertraut gewesen waren, wie zum Beispiel seine deutschen Großeltern in Heidelberg, waren lange tot. Meredith war das, behauptete sie, immer seltsam vorgekommen, aber es hatte zu der Aura des Rätselhaften, des Unnahbaren gehört, die ihn umgab und die sie, zumindest in den ersten Jahren, aufregend und anziehend gefunden hatte. Später war ihr seine Verschlossenheit jedoch zunehmend auf die Nerven gegangen und hatte immer häufiger zu Streit geführt. Warum kam er, nachdem er sie anfänglich so gern begleitet hatte, nur noch selten mit, wenn sie sich mit Kollegen zum Abendessen traf? Warum musste sie immer häufiger ohne ihn auf die Cocktailpartys, Empfänge und die sonntäglichen Bootsausflüge gehen, auf denen sie geschäftliche Kontakte knüpfte, Kunden aquirierte, Informationen sammelte? Die Tage und Abende, die er allein zu Haus verbrachte, waren nicht mehr Ausdruck seiner von ihr bewunderten Fähigkeit, sich selbst zu genügen, sondern nur noch Zeichen einer trostlosen Einsamkeit. Sie hatte geglaubt, erklärte sie ihm nach Justins Tod, ein Kind würde ihm guttun, ein Kind wäre eine Aufgabe.
     
    Paul überlegte, ob sie damals, als er sich das Haus kaufte, nach Lamma gekommen war, um es sich anzuschauen. Ja, er sah sie im Garten stehen, zwischen den wuchernden, fast bis zum Dach reichenden Bougainvilleabüschen, dem meterhohen Farn, den faulenden Bananenstauden herumwandern, sah, wie sie fassungslos das seit Monaten unbewohnte Haus anstarrte, den grünen, modrigen Film, den die Feuchtigkeit auf die Fassade gelegt hatte, sah sie durch die verstaubten und von Unrat verdreckten Zimmer gehen, hörte sie mit Ekel in der Stimme sagen: »Das passt zu dir.«
    Der Kauf dieses »Drecklochs« bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Er zog sich von der Welt zurück, weil er sich wohl fühlte in seinem Schmerz. Er versank in Selbstmitleid. Er ließ seinen Sohn nicht sterben, weigerte sich, dessen Tod zu akzeptieren. Und, das Unverzeihlichste von allem: Er ließ sich gehen. Dafür war dieses alte Haus auf dieser Insel, auf die kein normaler Hongkonger freiwillig zieht, der beste Beweis. Hier konnte er vor die Hunde gehen, sich zu Tode saufen, ohne dass ihn davon jemand abhielt, ja, vermutlich würde es Wochen dauern, bis überhaupt jemand sein Ableben bemerkte.
    Paul schenkte sich noch etwas Tee nach und
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