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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Krebszellen vermehrten sich explosionsartig. Auf die zwei Blöcke Chemotherapie reagierten sie nicht mehr. Alle medizinischen Optionen waren ausgeschöpft. Jetzt ging es nur noch darum, Justin so wenig wie möglich leiden zu lassen. Und es ging um die Frage, ob sein Leben um jeden Preis verlängert werden sollte. Möglichkeiten gäbe es. Sie sprachen von Intensivstation und künstlicher Beatmung. So wäre mit Sicherheit Zeit zu gewinnen, vielleicht eine Woche oder auch zwei. Medizinisch kein Problem.
    Wir gehen davon aus, dass Sie damit einverstanden sind, Herr und Frau Leibovitz?
    Meredith schwieg. Sie hatte die Augen geschlossen und schwieg.
    Die Ärzte schauten ihn an. Sie warteten. Sie warteten auf eine Entscheidung. Haben Sie noch Fragen? Sollen wir es Ihnen noch einmal erklären? Meredith schwieg, Paul schüttelte den Kopf.
    Sollen wir Justin auf die Intensivstation verlegen?
    Paul schüttelte wieder den Kopf.
    »Nein?«, fragten die Ärzte.
    »Nein!«, hörte er sich sagen. »Nein.« Er hatte entschieden. Meredith widersprach nicht.
     
    Es muss kurz nach 14 Uhr gewesen sein, als das Herz aufhörte zu schlagen. Den exakten Zeitpunkt des Todes konnte Dr. Li später nur schätzen.
    Um 13 Uhr war zuletzt eine Krankenschwester im Zimmer gewesen. Sie wollte die Suppe und den Tee, die sie eine Stunde zuvor gebracht hatte und die unberührt und erkaltet auf einem kleinen Tisch standen, wieder mitnehmen. Sie fühlte den Puls des Jungen, der schwach aber regelmäßig war. Sie prüfte den Tropf und den Katheter und ob Justin genug Morphium bekam. Paul Leibovitz saß stumm neben dem Bett und hielt die Hand seines Sohnes. Auf seinen Wunsch war das EKG-Gerät abgeschaltet worden, sodass in dem Raum, im Gegensatz zum Rest der Station, eine ungewöhnliche Stille herrschte.
    Dr. Li betrat um fünf Minuten vor drei das Zimmer und glaubte zunächst, Vater und Sohn wären zusammen eingeschlafen. Paul Leibovitz war nach vorn gesunken, sein Oberkörper lag auf dem Bett, der rechte Arm ausgestreckt, die linke Hand umklammerte die zarten Finger seines Sohnes. Justins Kopf war tief im Kissen versunken und zur Seite geneigt. Erst beim zweiten Blick bemerkte Dr. Li, dass der Junge nicht mehr atmete, dass seine Augen erstarrt und weit geöffnet waren, dass der Vater nicht schlief, sondern weinte. Nicht laut, nicht anklagend, es war kein Schmerz, der herausgebrüllt wurde, wie er es hier so oft erlebte. Dieses Schluchzen war furchtbar leise, kaum zu vernehmen, es war tief nach innen gerichtet und klang deshalb umso verzweifelter.
    Dr. Li hatte in den vergangenen dreißig Jahren, trotz aller Fortschritte der Medizin, viele Kinder sterben sehen. Für alle Eltern war der Tod des Kindes eine traumatische Erfahrung, aber in den meisten Fällen gab es Geschwisterkinder, die nach Aufmerksamkeit verlangten, Großeltern, die gepflegt werden wollten, Arbeit, die getan werden musste, Hypothekenverpflichtungen, auf deren monatliche Erfüllung die Banken pochten. Das Leben ging weiter, auch wenn sich das die Familien in den ersten Wochen und Monaten nicht vorstellen konnten. Einige, wenige zerbrachen an dem Verlust. Sie ließen sich von Schuldgefühlen zerfressen oder versanken im Selbstmitleid. Sie konnten die entstandene Leere nicht ertragen oder weigerten sich schlicht, ihre Kinder sterben zu lassen. Sie fanden nicht wieder zurück ins Leben. An sie musste Dr. Li denken, als er Paul Leibovitz schluchzen hörte.

I
    Paul lag regungslos in seinem Bett, hielt den Atem an und lauschte. Er hörte nichts als das leise, monotone Summen der Ventilatoren. Er hob leicht den Kopf von seinem Kissen. Horchte. War das nicht der erste Vogel? Es kam von der anderen Seite des kleinen Tals, ein schwaches, vereinzeltes Zwitschern, so zaghaft, dass Paul sich wunderte, dass es auf dem Weg zu ihm nicht verstummt war. Die Laute waren ein gutes Zeichen. Sie bedeuteten, dass bald die Dämmerung anbrach, dass im Dorf der erste Hahn kräht, dem die anderen in Sekundenabständen folgen. Sie bedeuteten, dass in wenigen Minuten die Vögel auch in seinem Garten zu singen beginnen, dass er das Klappern des Geschirrs und der Töpfe seiner Nachbarn hören wird. Dass die Nacht vorüber ist. Dass er die Stimmen der Dunkelheit nicht mehr ertragen muss.
    Bis zur Sonne und wieder zurück.
    Du musst keine Angst haben. Ich pass auf dich auf.
    Paul wartete, bis die ersten Lichtstrahlen durch die Holzrolladen fielen und die Stimmen ganz verstummten. Warum höre ich sie am Tage so selten,
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