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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Pflanzen, kochte oder putzte das Haus.
    Er las keine Tageszeitung, besaß keinen Fernseher und hörte nur morgens von sieben Uhr bis sieben Uhr dreißig Radio, den Worldservice der BBC. Ein Tag, an dem er mit keinem Menschen ein Wort wechselte, war ein guter Tag. Eine Woche, die der anderen glich, in der sich nichts ereignete, was Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen konnte, war eine gute Woche.
    Heute jedoch, das wusste er, würde es schwieriger werden. Es war Justins dritter Todestag, und Paul hatte sich fest vorgenommen, wie jedes Jahr nach Hongkong Island zu fahren und auf den Peak zu steigen.
    Es war kein guter Tag für eine Wanderung. Der zweite September ist in Hongkong nie ein guter Tag für eine Wanderung. Das Thermometer neben der Tür zeigte 36 Grad und 98 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Stadt schwitzte. Sie stöhnte unter der Hitze, und jeder, der es irgendwie einrichten konnte, versteckte sich in diesen Wochen in klimatisierten Räumen.
    Paul holte vorsichtshalber eine dritte Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und packte sie in den Rucksack. Er trug eine graue kurze Hose und ein leichtes, kurzärmeliges Hemd; damit ihm der Schweiß nicht ins Gesicht lief und in den Augen brannte, hatte er sich ein Tuch um Kopf und Stirn gewickelt. Seinen langen, muskulösen Beinen waren die täglichen Wanderungen anzusehen, er hatte den flachen, durchtrainierten Bauch eines jungen Mannes, und trotzdem würde der Anstieg bei diesem Wetter seine ganze Kraft erfordern. Er nahm seinen Wanderstock und ging mit gemächlichen Schritten den Hügel ins Dorf hinunter. Er schwitzte, bevor er die Fähre erreichte.
    Auf dem Schiff waren nur wenige Passagiere. Ein paar alte Chinesinnen fächerten sich mechanisch Luft zu. Paul stellte sich hinten an die Reling in der Hoffnung, der Fahrtwind oder eine leichte Brise auf dem Wasser würden für etwas Erleichterung sorgen. Aber die Luft war zu heiß und feucht, der Schweiß lief ihm ungehemmt den Nacken und Rücken, die Brust und die Beine hinunter, bis die Socken so nass waren, als wäre er durch Pfützen gelaufen.
    Es war die Erinnerung an eine Notlüge, die ihn jedes Jahr zweimal, am Geburts- und am Todestag seines Sohnes, in die Stadt und den Berg hinauftrieb. Ein Ritual, dessen Sinn er sich selbst nicht erklären konnte und dessen Einhaltung zu einer Art Zwang geworden war. Als hätte er etwas gutzumachen.
    Kurz vor seinem Tod hatte Justin ihn gefragt, ob er glaube, dass sie noch einmal gemeinsam auf den Peak klettern werden. Der höchste Berg auf Hongkong Island war eines ihrer liebsten Ausflugsziele gewesen, die Wanderung um die Spitze, der Ausblick auf die Stadt, den Hafen und das Südchinesische Meer, hatte Justin schon als Zweijährigen sehr beeindruckt. Der Peak war ein Ort, so schien es Paul, an dem sich sein Sohn sicher fühlte, eine Art Ausguck auf die Welt, den sie auf Drängen Justins zu jeder Jahreszeit aufsuchten. Im Sommer, wenn er, dank seiner Höhe, ein wenig Schutz vor der drückenden Hitze und Feuchtigkeit in der Stadt bot. Im Winter, wenn der Wind so kalt blies, dass Justin Wollmütze und Handschuhe trug und sie dort fast alleine herumwanderten, ja selbst im Frühjahr, wenn die Wolken an vielen Tagen die Spitze umhüllten und man nichts als Nebelschwaden sah. Dort oben hatten sie oft auf einer Bank gesessen, und Paul hatte seinem Sohn erklärt, warum Flugzeuge fliegen und Schiffe schwimmen, warum die großen Doppeldeckerbusse plötzlich klein wie Spielzeugautos aussehen und warum Sterne Sterne heißen und nicht Sonnen, obgleich sie doch aus sich heraus leuchten.
    Würden sie beide es noch einmal gemeinsam dorthin schaffen?
    »Aber sicher«, hatte Paul geantwortet, und sein Sohn hatte ein wenig den Kopf gehoben, ihn angelächelt und »wirklich?« gefragt. Sie hatten sich angeschaut, Paul hatte in die müden Augen seines Sohnes geblickt und nicht gewusst, was er weiter sagen sollte. Wollte Justin die Wahrheit wissen? Wollte er hören, nein, Justin, nein, das glaube ich nicht, dafür bist du zu schwach, und ich kann dich keine fünfhundert Meter hochtragen. Es gibt keine Hoffnung mehr. Wir werden nie wieder gemeinsam auf dem Peak stehen und die Flugzeuge zählen und die Schiffe und davon träumen, wie Vögel durch die Luft zu gleiten und den Spaziergängern auf den Kopf zu kacken. Natürlich wollte er das nicht hören. Natürlich hätte kein Mensch bei Verstand es fertiggebracht, das einem Achtjährigen zu sagen. Warum auch? Aber was dann?
    »Nicht schwindeln,
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