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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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zu denken war.
    Du musst keine Angst haben. Ich pass auf dich auf.
    Er wollte einfach nur da sein, trinken, atmen, einen Fuß vor den anderen setzen und seinen Sohn ganz selbstverständlich in Gedanken bei sich haben wie andere Eltern auch.
    Er schaffte es in knapp zwei Stunden. Die letzten paar hundert Meter auf der Findlay Road waren ihm leichtgefallen, mit langsamen aber rhythmischen, fast federnden Schritten erreichte er sein Ziel. Bevor er auf der Lugard Road einmal im Kreis um die Spitze wanderte, wollte er in einem Café auf dem Peak einen Tee trinken und ein Stück Zitronenkuchen essen, ein Ritual, das Justin eingeführt hatte. Im Café war es entsetzlich kalt, er hasste die eisige klimatisierte Luft, es war, als hätte ihn jemand in eine Gefrierkammer gestoßen. Es dauerte immer einige Minuten, bis sich der Körper an die neue Temperatur gewöhnte.
    Der Laden war ungewöhnlich leer, in einer Ecke hockte ein Paar, ein junger Mann mit Kopfhörern und ein Mädchen, das telefonierte, ein älterer Herr las in der South China Morning Post , eine Frau saß, über einen Stadtplan gebeugt, direkt hinter dem Tisch am Fenster, an dem Justin und er fast immer Pause gemacht hatten. Paul holte sich den Tee und das Stück Kuchen und setzte sich auf den Platz, mit dem ihn so viele Erinnerungen verbanden: Von hier oben hatte der Blick über die Stadt etwas Unwirkliches. Manchmal überkam ihn der Gedanke, der Moloch dort unten sei nur ein Produkt seiner Phantasie: Diese kühn in die steilen Hänge gebauten Wohnwaben, die Hochhäuser in Central und Causeway Bay, der Hafen mit seinen vielen hundert Booten, die emsig wie kleine Ameisen umherkreuzten. Um sich ihrer Existenz zu vergewissern, musste er ganz seinen Augen vertrauen. Das dicke Fensterglas machte das Bild zu einem geräusch- und geruchlosen Spektakel, wie in einem Stummfilm bewegten sich die Autos, die Schiffe, Hubschrauber und Flugzeuge. Paul dachte an seine Ankunft vor dreißig Jahren. Damals war er sicher, die Kronkolonie wäre für ihn nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die Volksrepublik China. Ein, maximal zwei Jahre hatte er bleiben wollen. Peking hieß sein eigentliches Ziel, und sobald sich die politische Situation nach der Kulturrevolution beruhigt hatte, würde er weiterziehen. Er war in Hongkong hängen geblieben, zunächst nur weil die Machtkämpfe in China viel länger dauerten als erwartet, dann aus Überzeugung. Hongkong wurde, ohne dass er es recht bemerkte, zu seiner Heimat, die einzige, die er je gekannt hatte. Er mochte diese von Flüchtlingen für Flüchtlinge gebaute Stadt, in der Tag und Nacht die Hektik der Getriebenen herrschte, die Nervosität der Heimatlosen, die Angst der Verfolgten. Vor seinem Rückzug nach Lamma hatten ihn die rastlose Unruhe nicht abgestoßen, im Gegenteil, sie spiegelten einen Teil seiner eigenen Ruhelosigkeit und gaben ihm an guten Tagen das Gefühl, dazuzugehören, Teil eines Ganzen zu sein, ein Gefühl, das er in seinem Leben zuvor nicht gekannt hatte.
     
    »Wohnen Sie hier?«
    Paul war so überrascht, dass er zunächst gar nicht wusste, woher die Stimme kam. Fast wäre ihm vor Schreck ein Stück Zitronenkuchen von der Gabel gefallen.
    »Oder sind Sie auf Geschäftsreise?«
    Es war die Frau vom Nebentisch. Sie muss Amerikanerin sein, dachte Paul. Niemand sonst würde einen Fremden an einem öffentlichen Ort so einfach in ein Gespräch verwickeln. Wie oft hatte er sich in Flugzeugen gegen die Hallo-wo-kommen-Sie-her-Geschwätzigkeit eines amerikanischen Sitznachbarn wehren müssen.
    »Nein, ich lebe hier«, antwortete Paul.
    »Oh, wie interessant. Schon lange, wenn ich fragen darf?«
    »Dreißig Jahre«, antwortete er knapp. Mit keinem Wort wollte er den Eindruck entstehen lassen, er wäre an einem Gespräch interessiert.
    »Dreißig Jahre? Mein Gott, wie halten Sie die vielen Menschen aus?« Paul schaute zu ihr hinüber. Nach ihrem leichten, aber unüberhörbaren Akzent zu urteilen, stammte sie vermutlich aus dem Mittleren Westen. Sie war schlank, ein sportlicher Typ, trug einen hellbraunen Hosenanzug, weißes Hemd und eine Perlenkette. Ihre Hände zitterten, wenn sie den Kaffeebecher hob. Es waren zarte Hände, sehr gepflegte Hände mit langen Fingern, an denen mehrere goldene Ringe steckten, einer davon war mit kleinen Diamanten besetzt, aber selbst die im Licht funkelnden Edelsteine konnten nicht davon ablenken, dass diese Hände zitterten. Ihr Alter konnte Paul nicht schätzen. Ihr Gesicht wirkte viel jünger
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