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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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und hoffte, dass sie schnell wieder aufgab. Für eine kurze Weile war es still, dann klingelte es erneut und nun ohne Unterlass.
    Paul erkannte weder ihre Stimme noch ihren Namen.
    »Owen«, wiederholte sie langsam. »Elizabeth Owen. Sie haben mir gestern auf dem Peak geholfen. Erinnern Sie sich nicht?«
    »Entschuldigung, Sie sind schlecht zu verstehen. Natürlich erinnere ich mich. Geht es Ihnen wieder besser?«
    Schweigen. Er hörte Straßenlärm, ihren Atem, aber nicht ihre Stimme. »Hallo?«, fragte er. »Ist alles in Ordnung?«
    »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte sie. »Können wir uns treffen?«
    »Uns treffen?«, wiederholte er, nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte.
    »Ja.«
    »Wann?«
    »Sofort.«
    »O Gott, das passt ganz schlecht, ich...«
    »Es ist sehr dringend«, unterbrach sie ihn. »Bitte, Herr Leibovitz.«
    Hatte er ihr gestern seinen Namen verraten? Jetzt hörte er das Brüchige in ihrer Stimme, und plötzlich kam ihm dieses Zittern im Ton so vertraut vor wie gestern ihr Gesicht.
    »Wo sind Sie jetzt?«
    »Vor dem Polizeipräsidium in...« Im Hintergrund hörte Paul den Verkehr rauschen und eine Männerstimme rufen: »Im Admiralty, Honey .«
    »Ich bin in zwei Stunden in Ihrem Hotel.«
     
    Elizabeth wartete in der Lounge auf ihn. Sie war noch blasser, als Paul sie von gestern in Erinnerung hatte, ihre Haut schien jetzt fast durchsichtig, an den Schläfen und am Kinn traten deutlich blaue Adern hervor. Ihre Augen waren rot unterlaufen, ihre Haare hingen in Strähnen ins Gesicht. Sie nahm seine beiden Hände und drückte sie fest: »Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind.« Sie wies auf den Mann an ihrer Seite. »Das ist mein Mann Richard.«
    Richard Owen streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Er war ein Bär von einem Mann, sein Alter ebenso schwierig zu schätzen wie das seiner Frau. Seine Haare waren leicht ergraut, aber noch voll, seine Gesichtshaut gebräunt und gestrafft, als könnten die Jahre ihm nichts anhaben. Er maß mindestens einen Meter neunzig, hatte breite Schultern, einen massigen Oberkörper, ohne dabei fett zu sein, buschige Augenbrauen und sehr lange Arme. Sein Händedruck und seine tiefe, durchdringende Stimme ließen Paul zusammenzucken.
    Die Owens führten ihn an einen abgelegenen Tisch in der Lounge. Hinter der Fensterfront, die sich über drei Stockwerke erstreckte und vom Boden bis unter die Decke reichte, lag die Skyline Hongkongs wie eine Postkartenansicht. Sie bestellten drei Kaffee und noch einen Whiskey für Mr. Owen.
    »Herr Leibovitz«, begann Elizabeth Owen mit leiser Stimme, »wir möchten Sie bitten, uns behilflich zu sein.« Paul sah, wie sie sich bemühte, nicht die Fassung zu verlieren. Sie schluckte mehrmals, Tränen traten ihr in die Augen.
    »Wobei kann ich Ihnen helfen?«
    »Wir, wir suchen unseren Sohn. Er ist verschwunden.«
    Paul spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich und ihm für einen Moment schwindelig wurde.
    »Ihr Sohn?«, hörte er sich fragen.
    »Michael. Michael Owen«, sagte sie in einem Ton, als müsste er ihn kennen.
    »Was heißt, er ist verschwunden?«
    »Er ist vor zwei Tagen nach Shenzhen gefahren. Er wollte am Abend wieder zurück sein. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.«
    »Was wollte er in China?«
    »Wir haben eine Fabrik, gleich hinter der Grenze, in der Provinz Guangdong«, erklärte ihr Mann in ruhigem Ton, als er merkte, dass seiner Frau allmählich die Stimme versagte.
    »Er war mit unserem Geschäftspartner, Herrn Tang, Victor Tang, zum Essen verabredet. Bei dem ist er aber nie angekommen.«
    Paul wusste nicht, was er sagen sollte. Er spürte, wie sein Herz raste und sein Atem flacher wurde. Er wollte die Frau beruhigen. Er wollte ihr erklären, dass sie sich keine Sorgen machen muss, dass bestimmt nichts geschehen ist, dass sich binnen weniger Stunden alles aufklären werde. Dass alles gut werden wird. Er brachte keinen Ton heraus. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen ...
    »Wir waren heute Morgen bei der Hongkonger Polizei, aber die waren nicht sehr hilfsbereit. Sie sind der Einzige in der Stadt, den ich kenne, und Sie sagten gestern, Sie leben schon sehr lange hier, und da dachte ich...« Sie beendete den Satz nicht.
    Paul nickte stumm.
    Ihr Blick richtete sich auf ihn. Ein bittender, flehender Blick, der ihn in einer Weise berührte, dass er ihn kaum ertragen konnte.
    »Ich habe Angst. Ich habe solche Angst, können Sie das verstehen?«, fügte sie flüsternd hinzu und begann zu
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