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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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die auf dem Peak in langen Reihen auf Kundschaft warteten.
    Elizabeth Owen wohnte mit ihrem Mann im Inter-Continental-Hotel in Tsim Sha Tsui auf der Kowloon-Seite des Hafens. Sie erklärte Paul, es sei absolut nicht notwendig, dass er sie dorthin bringe, sitze sie erst mal im Wagen, gäbe es keine Probleme, ihr Mann käme am späten Nachmittag zurück ins Hotel, das Personal würde ihr aufs Zimmer helfen, dort würde sie sich sofort ins Bett legen. Als er darauf bestand, sie zu begleiten, dankte sie es ihm mit einem schwachen Lächeln.
    Die Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern. In der Peak Road standen sie wegen einer Baustelle im Stau, nur im Schritttempo schlängelte sich der Wagen die schmale Straße nach Central hinunter. Die Zufahrt zum Cross-Harbour-Tunnel war, wie fast jeden Tag, verstopft. Sie sprachen kaum ein Wort. Elizabeth Owen hielt ihre Augen die meiste Zeit geschlossen. Vereinzelte Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, ohne dass Paul sie schluchzen oder weinen hörte. Er überlegte kurz, ob er sie fragen sollte, was ihr Kummer bereitete und ob er behilflich sein könnte. Ein Gedanke, den er sofort wieder verwarf, der ihm wie ein Reflex aus einem anderen Leben vorkam. Warum sollte er sich einmischen? Was ging ihn diese Frau an? Er brachte sie jetzt in ihr Hotel, würde dafür sorgen, dass sich dort jemand um sie bemühte und ihr Mann verständigt würde. Und für den Notfall konnte er ihr seine Telefonnummer hinterlassen. Das musste genügen, für mehr fehlte die Kraft, selbst wenn er gewollt hätte. Paul spürte, wie sehr ihn die letzte Stunde angestrengt hatte. So viel sprach er sonst in einer ganzen Woche nicht. Er wollte zurück nach Lamma. Zurück in sein Haus. Zurück zu seinen Erinnerungen.
    Elizabeth Owen. Der Name sagte ihm nichts. Verwechselte er sie? Oder hatten sie sich doch schon einmal gesehen? Aber wo? Und wenn ja, warum tat sie so, als würde sie ihn nicht kennen? Das waren seine letzten Gedanken, bevor ihm in der Gloucester Road die Augen zufielen.
     
    Paul stand unschlüssig in der Lobby. Der kurze Schlaf im Taxi hatte gutgetan, die Müdigkeit war verschwunden. Elizabeth Owen lag in ihrem Zimmer und schlief, man hatte ihren Mann verständigt, er war in der Stadt unterwegs und auf dem Weg zurück ins Hotel. An der Rezeption fragte Paul nach der Uhrzeit. Die jungen Frauen und Männer in ihren schwarzen Uniformen musterten ihn unverhohlen. Mit seinen Wanderstiefeln, der kurzen Hose und dem Rucksack passte er nicht in die Empfangshalle eines der luxuriösesten Hotels der Stadt.
    Er überlegte, was er mit dem gerade anbrechenden Nachmittag anfangen sollte. Es war kurz nach zwei Uhr, Zeit genug, um zurück auf den Peak zu fahren und die Wanderung fortzusetzen. Er zweifelte, ob dafür seine Kraft ausreichen würde. Er konnte Christine anrufen und fragen, ob sie schon zu Mittag gegessen hatte. Sie würde das vermutlich für einen Scherz halten. Bisher hatte er jede ihrer Einladungen ausgeschlagen, und gestern am Telefon war er besonders harsch gewesen. Er war sehr oft sehr unfreundlich zu ihr und fragte sich manchmal, warum sie den Kontakt nicht schon lange abgebrochen hatte. Nein, es war besser, die nächste Fähre nach Lamma zu nehmen. Er war auf dem Peak gewesen, er hatte das Ritual nicht gebrochen, und dass er der fremden Frau zu Hilfe gekommen ist, anstatt um die Spitze zu marschieren, war eine Selbstverständlichkeit. Jetzt war es an der Zeit, sich wieder zurückzuziehen.
    »Darf ich Ihnen behilflich sein?« Der ganz in Schwarz gekleidete Hotelmanager blickte ihn eine Spur zu arrogant an. So konnte man seine Bemerkung nicht mehr als freundliche Frage verstehen. Für Paul klang es eher nach einer Aufforderung zu gehen.
    »Kann ich etwas für Sie tun? Haben Sie einen Wunsch?«, fügte der Mann hinzu, als Paul ihn schweigend und etwas verstört anschaute.
    »Keinen, den Sie mir erfüllen können«, sagte er, drehte sich um und ging hinaus.

III
    Er hasste das Geräusch eines läutenden Telefons. Egal welchen Klingelton er ausprobierte, er empfand es immer als eine äußerst unangenehme Störung seiner Ruhe. Paul saß auf der Terrasse im Garten, trank die letzte Tasse seines morgendlichen Tees und ließ es läuten. Er war nicht der Typ, der sofort aufspringt, sobald jemand nach ihm klingelt.
    Das Handy lag in der Küche, nur sehr wenige Menschen besaßen seine Nummer, vermutlich war es Christine, aber er verspürte nicht die geringste Lust, mit ihr oder einem anderen Menschen zu reden,
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