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Das Feuer von Innen

Das Feuer von Innen

Titel: Das Feuer von Innen
Autoren: Carlos Castaneda
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meiner Verbindung mit ihm ließ er mich immer wieder in diesen Zustand überwechseln, und zwar durch einen Schlag mit der flachen Hand, den er mir auf den Rücken versetzte.
    Im Zustand gesteigerter Bewußtheit, so erklärte Don Juan, können Lehrlinge sich fast so natürlich wie im alltäglichen Leben bewegen, aber sie sind imstande, ihren Geist mit ungewöhnlicher Klarheit und Eindringlichkeit auf alle Dinge einzustellen. Eine besondere Eigenschaft dieser gesteigerten Bewußtheit ist allerdings, daß sie nicht der normalen Erinnerung zugänglich ist. Was in solch einem Zustand stattfindet, kann der Lehrling nur durch einen ungeheuren Wiederbelebungsversuch zum Bestandteil seines Alltagsbewußtseins machen.
    Ein Beispiel für diese Schwierigkeit, sich zu erinnern, bietet mein Umgang mit dem Zug des Nagual. Abgesehen von Don Genaro, hatte ich nur dann mit ihnen Kontakt, wenn ich mich in einem Zustand gesteigerter Bewußtheit befand; und deshalb konnte ich mich in meinem alltäglichen Leben nicht an sie erinnern, nicht einmal als verschwommene Figuren eines Traumes. Die Art, wie ich jedesmal mit ihnen zusammentraf, war beinahe ein Ritual. Ich pflegte nach Don Genaros Haus zu fahren, in einer kleinen Stadt im Süden Mexikos. Sofort stieß Don Juan dann zu uns, und wir drei beschäftigten uns mit Don Juans Lehren für die rechte Seite. Danach pflegte Don Juan mich in eine andere Bewusstseinsebene überwechseln zu lassen, und wir fuhren in eine nahegelegene größere Stadt, wo er und die übrigen fünfzehn Seher wohnten. Jedes mal, wenn ich in den Zustand gesteigerter Bewußtheit eintrat, erfaßte mich unendliches Staunen über die Verschiedenheit meiner zwei Seiten. Es war stets, als würde mir ein Schleier von den Augen gezogen, als wäre ich vorher teilweise blind gewesen und könnte erst jetzt richtig sehen. Die Freiheit, die reine Freude, die mich bei solchen Gelegenheiten befiel, ist mit nichts vergleichbar, was ich jemals erlebt hätte. Gleichzeitig aber war da ein beängstigendes Gefühl der Traurigkeit und Sehnsucht, das mit jener Freiheit und Freude aufs engste verbunden war. Don Juan hatte mir gesagt, daß es keine Vollkommenheit ohne Traurigkeit und Sehnsucht gäbe, denn ohne sie gebe es keine Ernsthaftigkeit, keine Freundlichkeit. Weisheit ohne Freundlichkeit, so sagte er, und Wissen ohne Ernsthaftigkeit sind nutzlos. Das System seiner Lehren für die linke Seite sah auch vor, daß Don Juan, zusammen mit einigen seiner Seher-Gefährten, mir die drei Aspekte ihres Wissens erläuterte: die Meisterschaft der Bewußtheit, die Meisterschaft des Pirschens und die Meisterschaft der Absicht.
    Dieses Buch handelt von der Bemeisterung der Bewußtheit, die nur einen Teil des Gesamtsystems seiner Lehren für die linke Seite ausmacht; den Teil nämlich, mit dessen Hilfe er mich darauf vorbereitete, jene erstaunliche Tat - den Sprung in einen Abgrund – auszuführen.
    Bedingt durch die Tatsache, daß die Erfahrungen, von denen ich hier berichte, sich im Zustand gesteigerter Bewußtheit zutrugen, zeigen sie nicht das Gepräge des alltäglichen Lebens. Es fehlt ihnen der Zusammenhang mit den Dingen dieser Welt, auch wenn ich mich nach Kräften bemüht habe, ihn herzustellen, ohne eine Fiktion zu erfinden. Im Zustand gesteigerter Bewußtheit ist man sich nur minimal der Umgebung bewußt, denn die ganze Aufmerksamkeit wird durch die Einzelheiten des unmittelbaren Tuns in Anspruch genommen.
    Dieses unmittelbare Tun war in unserem Fall natürlich meine Unterweisung in der Meisterschaft der Bewußtheit. Don Juan verstand die Meisterschaft der Bewußtheit als eine moderne Variante einer sehr alten Überlieferung, die er als Überlieferung der alten toltekischen Seher bezeichnete.
    Zwar glaubte er sich unlösbar mit dieser alten Überlieferung verbunden, doch er betrachtete sich als einen der Seher eines neuen Zyklus. Als ich ihn einmal fragte, was die wesentliche Eigenschaft dieser Seher des neuen Zyklus wäre, da sagte er, sie seien die Krieger einer absoluten Freiheit, sie seien solche Meister der Bewußtheit, des Pirschens und der Absicht, daß sie nicht, wie der Rest der Menschheit, dem Tode verfallen sind, sondern selbst den Augenblick und die Art ihres Abschieds von der Welt wählen können. In diesem Augenblick werden sie von einem inneren Feuer verzehrt und verschwinden vom Antlitz dieser Erde, frei, als hätten sie nie existiert.

1. Die neuen Seher
    Ich war in Oaxaca angekommen, im Süden Mexikos, unterwegs in die
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