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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Stunden schlug, war mit gotischen Ziffern und einer Jagdszene bemalt. Ob dein Vater unverändert war? Nein. Du hast seinen Verfall auf den Photos verfolgt, die Tante Adelina und andere ferne Verwandte, die dir weiter schrieben, obwohl du ihre Briefe nie beantwortet hast, alle paar Monate oder Jahre schickten.
    Sie läßt sich in einen Sessel fallen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne treffen das Zentrum der Stadt; die Kuppel des Regierungspalastes und seine blaß ockerfarbenen Mauern
    leuchten sanft unter dem blauen Gewölbe. Geh endlich hinaus, bald wird die Hitze unerträglich sein. Sie schließt die Augen, von einer Trägheit erfaßt, die sie selten befällt, sie, die gewohnt ist, immer aktiv zu sein, keine Zeit mit dem zu verlieren, was sie, seit sie ihren Fuß wieder auf dominikanischen Boden gesetzt hat, Tag und Nacht tut: sich erinnern. »Diese Tochter, immer am Arbeiten, noch im Schlaf wiederholt sie die Aufgaben.« Das sagte der Senator Agustin Cabral über dich, der Minister Cabral, Cerebrito – Köpfchen – Cabral, wenn er vor seinen Freunden mit dem kleinen Mädchen prahlte, das alle Preise gewann, mit der Schülerin, die von den Sisters immer als Vorbild hingestellt wurde. Ob er wohl vor dem Chef mit Uranitas schulischen Leistungen prahlte? »Es würde mich sehr freuen, wenn Sie sie kennenlernen, sie hat seit ihrem Eintritt in die Santo-Domingo-Schule jedes Jahr den Klassenpreis bekommen. Es wäre das höchste Glück für sie, Sie kennenzulernen, Ihnen die Hand zu geben. Uranita betet jeden Abend, damit der liebe Gott Ihnen Ihre eiserne Gesundheit erhält. Und auch für Dona Julia und Dona Maria. Gewähren Sie uns diese Ehre. Darum bittet, darum fleht, darum winselt der treueste Ihrer Hunde. Sie können mir das nicht abschlagen: empfangen Sie sie. Exzellenz! Chef!«
    Verabscheust du ihn? Haßt du ihn? Noch immer? »Nicht mehr«, sagt sie mit lauter Stimme. Du wärst nicht zurückgekehrt, wenn das Ressentiment noch schwelen, die Wunde bluten, die Enttäuschung dich erdrücken, dich vergiften würde, wie in deiner Jugend, als Lernen und Arbeiten zum obsessiven Mittel wurden, dich nicht zu erinnern. Damals hast du ihn tatsächlich gehaßt. Mit allen Fasern deines Wesens, mit allen Gedanken und Gefühlen, die in deinem Körper Platz fanden. Du hast ihm Mißgeschicke, Krankheiten, Unfälle an den Hals gewünscht. Gott hat dir den Gefallen getan, Urania. Oder eher der Teufel. Ist es nicht genug, daß der Gehirnschlag ihn zu Lebzeiten getötet hat? Eine süße Rache, daß er seit zehn Jahren im Rollstuhl sitzt, ohne gehen, sprechen zu können, daß er abhängig von einer Krankenschwester ist, um zu essen, ins Bett zu gehen, sich anzukleiden, sich auszukleiden, sich die Nägel zu schneiden, sich zu rasieren, seine Blase und seinen Darm zu entleeren? Fühlst du Genugtuung? »Nein.« Sie trinkt ein zweites Glas Wasser und geht hinaus. Es ist sieben Uhr morgens. Im Erdgeschoß des Hotels Jaragua überfällt sie der Lärm, dieses schon vertraute Ambiente aus Stimmen, Motorgeräuschen, voll aufgedrehten Radios, Merengues, Salsas, Danzones und Boleros oder Rock und Rap, die sich vermischen, sich gegenseitig attackieren, sie attackieren mit ihrem schrillen Getöse. Belebtes Chaos, tiefes Bedürfnis deines einstigen Volkes, Uranita, sich zu betäuben, um nicht zu denken und vielleicht nicht einmal zu fühlen. Aber auch Explosion wilden Lebens, das den Wellen der Modernisierung widersteht. Etwas in den Dominikanern klammert sich an diese vorrationale, magische Form: dieses Verlangen nach Lärm. (»Nach Lärm, nicht nach Musik.«)
    Sie kann sich nicht erinnern, daß ein derartiger Lärm auf der Straße herrschte, als sie ein kleines Mädchen war und Santo Domingo noch Ciudad Trujillo hieß. Vielleicht gab es ihn nicht; vielleicht war die Stadt vor fünfunddreißig Jahren stiller und weniger hektisch, als sie nur ein Drittel oder ein Viertel so groß war, als sie provinziell, isoliert, von Angst und Servilität betäubt war und ihre Seele darniederlag in panischer Ehrfurcht vor dem Chef, dem Generalissimus, dem Wohltäter, dem Vater des Neuen Vaterlandes, vor seiner Exzellenz Dr. Rafael Leónidas Trujillo Molina. Heute kommen sämtliche Geräusche des Lebens, Automotoren, Kassetten, CD’s, Radios, Hupen, bellende, knurrende Hunde, menschliche Stimmen in voller Lautstärke daher, auf der höchsten Stufe des stimmlichen, mechanischen, digitalen oder tierischen Lärmpegels (die Hunde bellen lauter, und die Vögel piepsen
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