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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks
Autoren: Mario Vargas Llosa
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endlich sieht sie es. Die Dunkelheit weicht in wenigen Sekunden, und mit dem rasch heraufziehenden bläulichen Schein am Horizont beginnt das Schauspiel, auf das sie wartet, seit sie um vier Uhr aufgewacht ist, obwohl sie trotz ihrer Aversion gegen Schlafmittel eine Tablette genommen hat. Die dunkelblaue Oberfläche des Meeres, aufgerauht durch Schaumflecken, wird an der fernen Linie des Horizonts auf einen bleifarbenen Himmel treffen und bricht sich geräuschvoll in schaumigen Wellen an der Uferpromenade, deren Bürgersteig sie durch die Palmen und Mandelbäume, die ihn säumen, hier und da erkennen kann. Damals ging das Hotel Jaragua mit der Vorderseite auf die
    Promenade hinaus. Jetzt mit der Schmalseite. In ihrer Erinnerung steigt das Bild des kleinen Mädchens auf – an jenem Tag? –, das an der Hand seines Vaters das Restaurant des Hotels betritt, wo sie beide ganz allein essen wollen. Man gab ihnen einen Tisch am Fenster, und Urania konnte durch die Vorhänge hindurch den weiträumigen Garten und den Swimmingpool mit Sprungbrettern und Badegästen sehen. Ein Orchester spielte Merengues im Spanischen Hof, den Kacheln und Nelken in Blumentöpfen schmückten. War es an jenem Tag gewesen? »Nein«, sagt sie mit lauter Stimme. Das damalige Hotel Jaragua hatte man abgerissen und durch dieses große pinkfarbene Gebäude ersetzt, das sie bei ihrer Ankunft in Santo Domingo drei Tage zuvor so überrascht hatte.
    Hast du gut daran getan, zurückzukommen? Du wirst es bereuen, Urania. Eine Ferienwoche zu vergeuden, wo du nie Zeit hattest, all die Städte, Regionen, Länder kennenzulernen, die du gern gesehen hättest – die beschneiten Bergketten und Seen Alaskas zum Beispiel –, und auf die kleine Insel zurückzukehren, die nie wieder zu betreten du dir geschworen hattest. Zeichen des Niedergangs? Herbstliche Sentimentalität? Neugier, nichts weiter. Dir beweisen, daß du durch die Straßen dieser Stadt laufen kannst, die nicht mehr deine ist, dieses fremde Land bereisen kannst, ohne Traurigkeit, Wehmut, Haß, Bitterkeit, Wut zu empfinden. Oder bist du gekommen, um dich mit dem menschlichen Wrack deines Vaters zu konfrontieren? Um herauszufinden, welche Wirkung sein Anblick nach so vielen Jahren auf dich hat? Ein Schauer läuft ihr den Rücken hinunter. Urania, Urania! Vielleicht entdeckst du ja noch nach so vielen Jahren, daß unter deinem willensstarken, wohlgeordneten, gegen Mutlosigkeit gefeiten Kopf, hinter dieser Festung, die man an dir bewundert und um die man dich beneidet, ein ängstliches, verletztes, sentimentales kleines Herz schlägt. Sie lacht auf. Schluß mit den Albernheiten, Mädchen. Sie zieht die Turnschuhe, die Sportkombination an, faßt ihr Haar mit einem Haarnetz zusammen. Sie trinkt ein Glas kaltes Wasser und schickt sich an, den Fernseher einzuschalten, um
    CNN zu sehen, aber sie überlegt es sich anders. Sie bleibt am Fenster stehen und betrachtet das Meer, die Uferpromenade und nach einem leichten Drehen des Kopfes den Wald aus Dächern, Türmen, Kuppeln, Glockentürmen und Baumwipfeln der Stadt. Wie sie gewachsen ist! Als du sie 1961 verlassen hast, beherbergte sie dreihunderttausend Seelen. Jetzt mehr als eine Million. Sie hat sich um ganze Viertel, breite Straßen, Parks und Hotels vermehrt. Am Vortag hatte sie sich wie eine Fremde gefühlt, als sie in einem Mietwagen durch die eleganten Wohnkomplexe von Bella Vista und den riesigen Park El Mirador gefahren war, wo es genauso viele Jogger gab wie im Central Park. In ihrer Kindheit endete die Stadt am Hotel El Embajador; dort begannen die Plantagen und Saatfelder. Der Country Club, in den ihr Vater sie an den Sonntagen zum Swimmingpool mitnahm, war von freien Feldern umgeben, und nicht von Asphalt, Häusern und Lichtmasten wie jetzt.
    Aber der koloniale Stadtteil wurde nicht erneuert, auch nicht Gazcue, ihr Viertel. Und sie ist sich ganz sicher, daß ihr Haus sich kaum verändert hat. Es wird das alte sein mit seinem kleinen Garten, dem alten Mangobaum und dem rotblühenden Flamboyant, der sich über die Terrasse neigte, auf der sie am Wochenende im Freien zu essen pflegten; mit seinem Satteldach und dem kleinen Balkon ihres Schlafzimmers, auf den sie hinaustrat, um ihre Cousinen Lucinda und Manolita zu erwarten und, in jenem letzten Jahr, 1961, um diesen Jungen abzupassen, der auf dem Fahrrad vorbeifuhr und sie verstohlen anschaute, ohne zu wagen, das Wort an sie zu richten. Ob es drinnen auch unverändert war? Die Kuckucksuhr, die die
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