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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks
Autoren: Mario Vargas Llosa
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wiederherzustellen? »Kann man um diese Zeit ein Taxi rufen?«
    »Wir bringen dich hin«, sagt Lucindita und steht auf. Als Urania sich hinunterbeugt, um ihre Tante Adelina zu umarmen, klammert die Alte sich an sie mit ihren spit2en Hakenfingern. Sie schien sich beruhigt zu haben, aber jetzt wirkt sie wieder aufgewühlt, Angst und Schrecken liegen in den eingesunkenen Augen, deren Höhlen von Falten umgeben sind.
    »Vielleicht hat Agustín nichts gewußt«, stammelt sie mühsam, als löste sich gleich ihr Gebiß. »Manuel Alfonso kann meinen Bruder getäuscht haben, er war im Grunde sehr naiv. Du darfst ihm nicht so grollen. Er hat sehr einsam gelebt, er hat viel gelitten. Gott lehrt uns, zu vergeben. Bei deiner Mutter, die so katholisch war, mein Kleines.« Urania versucht, sie zu beruhigen: »Ja, ja, Tante, wie du meinst, reg dich nicht auf, ich bitte dich.« Ihre beiden Töchter bemühen sich um die alte Frau, versuchen sie zu beschwichti-gen. Schließlich nickt sie und sinkt wieder in ihrem Schaukelstuhl zusammen, das Gesicht verstört. »Verzeih mir, daß ich dir diese Dinge erzählt habe.« Urania küßt sie auf die Stirn. »Es war unsinnig. Aber es hat seit so vielen Jahren in mir gebrannt.«
    »Jetzt wird sie sich beruhigen«, sagt Manolita. »Ich bleibe bei ihr. Es war richtig von dir, daß du es uns erzählt hast. Bitte schreib, ruf mal an. Laß uns den Kontakt nicht noch einmal verlieren.« »Ich verspreche es dir«, sagt Urania.
    Sie begleitet sie bis zur Tür und verabschiedet sie am alten Auto Lucindas, einem gebrauchten Toyota, der am Eingang parkt. Als Manolita sie noch einmal umarmt, hat sie Tränen in den Augen.
    Im Auto, als sie durch die verlassenen Straßen von Gazcue zum Hotel Jaragua fahren, ist Urania auf einmal beklommen zumute. Warum hast du das getan? Wirst du dich anders fühlen, befreit von diesen Dämonen, die deine Seele verwüstet haben? Natürlich nicht. Es war eine Schwäche, ein Rückfall in Sentimentalität und Selbstmitleid, die dich bei anderen Leuten immer abgestoßen haben. Hast du erwartet, daß sie dich bemitleiden, daß sie sich deiner erbarmen? Diese Genugtuung wolltest du?
    In diesem Augenblick erinnert sie sich – es hilft bisweilen gegen ihre Depressionen – an das Ende von Johnny Abbes García. Erzählt hatte es ihr Vorjahren Esperancita Bourricaud, eine Kollegin bei der Weltbank, die in Port-auPrince gearbeitet hatte, wo der ehemalige Chef des SIM gelandet war, nachdem es ihn in dem goldenen Exil, das Balaguer ihm aufgezwungen hatte, nach Kanada, Frankreich und in die Schweiz – nie setzte er einen Fuß nach Japan – verschlagen hatte. Esperancita und die Familie Abbes García waren Nachbarn. Er war als Berater von Präsident Duvalier nach Haiti gekommen. Aber nach einer Weile begann er gegen seinen neuen Chef zu konspirieren und die Umsturzpläne eines Schwiegersohns des haitianischen Diktators, Oberst Dominique, zu unterstützen. Papa Doc löste das Problem in zehn Minuten. Esperancita sah eines Vormittags etwa zwanzig Tontons Macoutes aus zwei Kleinbussen steigen und um sich schießend in das Haus ihrer Nachbarn eindringen. Sie töteten Johnny Abbes, sie töteten die Frau von Johnny Abbes, sie töteten die zwei kleinen Kinder von Johnny Abbes, sie töteten die beiden Dienstmädchen von Johnny Abbes, und sie töteten auch die Hühner, die Kaninchen und die Hunde von Johnny Abbes. Danach setzten sie das Haus in Brand und zogen ab. Esperancita Bourricaud benötigte psychiatrische Behandlung bei ihrer Rückkehr nach Washington. Ist das der Tod, den du Papa gewünscht hättest? Bist du voll Groll und Haß, wie Tante Adelina gesagt hat? Sie fühlt sich – abermals – leer. »Es tut mir sehr leid wegen dieser Szene, wegen dieses Melodrams, Lucindita«, sagt sie am Eingang zum Hotel Jaragua. Sie muß laut sprechen, denn die Musik, die im Kasino im Erdgeschoß für Stimmung sorgt, übertönt ihre Stimme. »Ich habe Tante Adelina den Abend verdorben.« »Was sagst du da, Mädchen. Jetzt verstehe ich, was mit dir war, dieses Schweigen, das uns so geschmerzt hat. Bitte, Urania, komm uns wieder besuchen. Wir sind deine Familie, das hier ist deine Heimat.«
    Als Urania sich von Marianita verabschiedet, klammert diese sich an sie, als wollte sie mit ihr verschmelzen, in sie hineinkriechen. Der kleine, dürre Körper des Mädchens zittert wie Papier.
    »Ich werde dich sehr lieb haben, Tante Urania«, flüstert sie ihr ins Ohr, und Urania fühlt, wie Traurigkeit in ihr
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