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029 - Der Unheimliche

029 - Der Unheimliche

Titel: 029 - Der Unheimliche
Autoren: Edgar Wallace
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    »Du bist schön«, sagte Mr. Maurice Tarn bedächtig, »und du bist jung. Wahrscheinlich wirst du mich um viele Jahre überleben. Ich hätte nichts dagegen, wenn du dich wieder verheiratest. Solange ich lebe, wird es dir gut gehen, und nach meinem Tode erbst du ein großes Vermögen. Sicher wird es dir nie eingefallen sein, einmal in mir deinen Ehemann zu sehen, aber es ist ja schon öfter vorgekommen, daß ein Vormund sein Mündel geheiratet hat. Der Altersunterschied dürfte auch kein unüberwindliches Hindernis sein.«
    Er sprach, als ob er eine sorgfältig einstudierte Rede hielte, und Elsa Marlowe hörte bestürzt zu. Maurice Tarn, ein Mann von sechsundfünzig Jahren, unrasiert und ungepflegt, saß am Frühstückstisch. Mit zitternder Hand, einer Folge des Trinkgelages der letzten Nacht, strich er über seinen struppigen grauen Schnurrbart. Er hatte ihr tatsächlich einen Heiratsantrag gemacht!
    Elsa starrte ihn aus weitgeöffneten Augen an und konnte es kaum fassen.
    »Du glaubst, ich bin verrückt«, fuhr er langsam fort. »Ich habe es mir aber reiflich überlegt, Elsa. Soviel ich weiß, bist du noch nicht gebunden. Was sollte also einer Ehe im Wege stehen - es sei denn der Altersunterschied.«
    »Aber Mr. Tarn!« Sie stotterte fast vor Überraschung. »Das ist doch ganz unmöglich!«
    Elsa glaubte, er sei noch betrunken. Seit fünfzehn Jahren lebte sie in seinem Hause, und sie hatte keinen großen Respekt vor ihm. Wenn dieser Antrag nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen wäre, hätte sie vermutlich laut gelacht.
    »Ich will Sie nicht heiraten - ich will überhaupt niemanden heiraten. Es ist sehr - sehr gut von Ihnen gemeint, und ich fühle mich sehr -«, Elsa konnte das Wort kaum über die Lippen bringen, »- geehrt. Aber es ist absurd!«
    Er betrachtete sie aus müden Augen. »Ich muß wegfahren - irgendwohin. Ich muß nun etwas für meine Gesundheit tun. Seitdem Major Amery im Geschäft aufgetaucht ist, kann ich auf keinen Fall mehr so weitermachen.«
    »Weiß Ralf schon, daß Sie fort wollen?« erkundigte sie sich neugierig.
    »Nein!« schrie er heftig. »Er weiß es nicht, und er soll es auch nicht wissen! Verstehst du, Elsa: Ralf darf es auf keinen Fall erfahren! Was ich dir gesagt habe, muß unter uns bleiben.«
    Zu ihrer großen Erleichterung beendete er mit einer Handbewegung die Unterhaltung und versank in brütendes Schweigen. Das junge Mädchen blickte auf die abgetretenen Rasenflächen vor dem Fenster. An sonnigen Tagen war der Schatten des großen Baumes inmitten des Platzes ein bevorzugter Aufenthalt für die Kindermädchen und ihre kleinen Schützlinge; zu dieser frühen Stunde war die Wiese jedoch noch verlassen.
    Elsa warf einen kurzen Blick auf Maurice Tarn. Sein Kragen war angeschmuddelt, denn gewöhnlich mußte ein Hemd drei Tage bei ihm reichen. Seine schäbige, schwarze Krawatte war verknüllt, und die Ärmel seines altmodischen Gehrocks waren durchgescheuert. Elsa schüttelte sich, wenn sie ihn sich als ihren zukünftigen Ehemann vorstellte. Früher hatte sie oft versucht, ihn dazu zu bewegen, sich neue Anzüge zu kaufen und sich besser zu kleiden. Maurice Tarn hatte immer unwirsch abgelehnt. Er hatte ein sehr gutes Einkommen und hatte sie vor einiger Zeit mit der Mitteilung überrascht, daß er ein sehr hohes Bankguthaben besitze, aber er war geizig. Elsa mußte ihm für einiges dankbar sein: für die Erziehung in einer der billigsten Schulen, für ein kleines Taschengeld, das er nur zögernd herausrückte, für einen Kurzkurs in einer überfüllten Handelsschule und dann für eine Ausbildung, die sie befähigt hatte, als Privatsekretärin beim alten Amery einzutreten. Außerdem lebte sie in seinem Hause.
    Elsa hatte sich oft darüber Gedanken gemacht, welch großmütige Laune ihn wohl dazu gebracht hatte, das verwaiste Kind eines entfernten Verwandten bei sich aufzunehmen, bis er ihr einmal erklärte, daß er die Einsamkeit verabscheue und lieber ein Kind als einen Hund im Hause habe.
    Während er sein gebratenes Huhn in winzig kleine Stücke schnitt, fragte er plötzlich:
    »Was gibt es Neues in der Zeitung?«
    Er las die Zeitung niemals selbst, und seit Jahren gehörte es zu Elsas Pflichten, ihn auf die wichtigsten Nachrichten im Morgenblatt aufmerksam zu machen.
    »Nichts Besonderes«, antwortete sie. »Über die Parlamentskrise sind Sie ja bereits unterrichtet.«
    »Sonst nichts?«
    »Nur noch der Rauschgiftskandal«, erklärte sie.
    Er blickte plötzlich
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